Vom Stromkartell zur Energiewende. Peter Becker
8. Rechtsschutz
Denn die Erfahrungen mit der gerichtlichen Kontrolle von Regulierungsentscheidungen bei Telekom und Post waren nicht ermutigend. Zerres, Mitarbeiter der Regulierungsbehörde, schrieb122, die Anfechtung von Regulierungsentscheidungen sei für Telekom und Post Routine. Im Zeitraum 1997 bis 2002 hätten die Unternehmen ca. 1.800 Verfahren gegen die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) bzw. das Bundesministerium für Wirtschaft angestrengt, davon seien 1.000 TK-rechtlich. Erledigt war zu diesem Zeitpunkt die Hälfte. Die Erfolgsquote liege bei etwa 50/50.
Lau123, Vorsitzender Richter des für die RegTP zuständigen Senats beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, kam zu dem Ergebnis, dass häufig die Inanspruchnahme des Rechtsschutzes zum Aus der Maßnahme führe. Ein Hauptgrund sei die Dauer der verwaltungsgerichtlichen Eil- und Hauptsacheverfahren. Zwar seien die Maßnahmen der RegTP sofort vollziehbar. Jedoch setze die RegTP ab Stellung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz (von sich aus) den Vollzug aus.124 Eilverfahren dauerten gewöhnlich um die drei Monate. Damit erlangte das regulierte Unternehmen zumindest drei Monate Wettbewerbsvorsprung. Hauptsacheverfahren sind selten. Vom Bundesverwaltungsgericht lagen 2005, acht Jahre nach der Liberalisierung von Telekom und Post, nur zwei Hauptsacheentscheidungen vor.
Da die Beschlüsse der RegTP gegen das regulierte Unternehmen meistens auf ein Jahr befristet waren und der Rechtsschutz aufgrund der Komplexität der regulierten Sachverhalte und Regelungen geraume Zeit in Anspruch nahm, konnte von einem effektiven Rechtsschutz nicht die Rede sein. Zwar konnten auch Wettbewerber Eilrechtsschutz beantragen. Sie mussten jedoch einen Anordnungsgrund nachweisen, der regelmäßig verneint wurde, wenn die Hauptsache vorweggenommen wird. Der Anordnungsgrund wurde in der Regel nur bejaht, wenn der Wettbewerber seine Existenzgefährdung nachweisen konnte.125 Die deutsche Telekom bekam die Aussetzung jedoch schon dann, wenn „überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Anspruch auf die Genehmigung des höheren Entgelts besteht“, wie es im TKG hieß. Zweierlei Maß!
9. Die EnWG-Novelle 2005
Die Beschleunigungsrichtlinien der EU vom Juli 2003 verpflichteten alle Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, zur Einführung des regulierten Netzzugangs. Das Vorverständnis der Bundesregierung dazu ergibt sich aus der Rede von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement anlässlich der Handelsblatt-Jahrestagung Energie vom 20.1.2004. Er sagte dort: „Es darf auf keinen Fall gegen den Markt reguliert werden. Den Wert der Regelungen, auf die sich Marktpartner bereits verständigt haben oder noch verständigen, wollen wir deshalb berücksichtigen. So wollen wir z.B. das Netzzugangsmodell aus der Verbändevereinbarung Strom in vollem Umfang übernehmen. Und auch bei der Festlegung eines unternehmerischen Risikozuschlages, der wegen notwendiger Investitionen ins Netz in die Entgelte eingerechnet werden darf, sollten wir uns an den Regelungen der Verbändevereinbarung orientieren.“
Wenn „nicht gegen den Markt reguliert werden“ soll, heißt das: Nicht gegen die Branche. Wie das konkret geplant war, ergab sich aus dem „Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts“ vom 14.10.2004.126 Als zentrale Regulierungsinstanz sollte die RegTP, nunmehr umbenannt in Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (Bundesnetzagentur), eingeführt werden. Die Regulierung sollte sich auf die Festlegung der Methoden im Gesetz und in den Rechtsverordnungen beschränken. Die konkrete Aufsicht sollte im Nachhinein stattfinden. Diese Entscheidungen wurden von der Branche begrüßt. Das nimmt, angesichts der zahlreichen Eilverfahren auf Netzzugang, mich wunder.
Es gab jedoch auch kritische Stimmen127; vor allem deswegen, weil die zentrale Regulierungsbehörde nunmehr für etwa 1.600 Netzbetreiber zuständig werden sollte. Das ließ eine völlige Überforderung erwarten, weil nicht nur – wie bei Telekom und Post – zwei Unternehmen zu regulieren waren, sondern gleich 1.600 Netzbetreiber. Die Erfahrungen bei der RegTP alt zeigten außerdem, dass Telekom und Post praktisch jede Regulierungsentscheidung angefochten hatten, was zu einer Unzahl von Prozessen führte.128 Die Entscheidung für eine zentrale Regulierung hätte dann zu einer Konzentration des Rechtsschutzes beim Regulierungssenat des OLG Düsseldorf geführt, dessen Überlastung unschwer vorherzusagen war.129 Diese Überlegungen haben in der Tat gefruchtet:
Denn der Bundesrat forderte in seiner Stellungnahme130 ein Umschwenken in zahlreichen Grundsatzfragen:
– Die explizite Etablierung einer Anreizregulierung,
– eine wirksame Kontrolle des Netzzugangs und der Höhe der Netznutzungsentgelte durch Abkehr vom Prinzip der Nettosubstanzerhaltung,
– Ersetzung des Begriffs der „energiewirtschaftlich rationellen Betriebsführung“ als Maßstab für die Angemessenheit der Netzzugangsentgelte durch den Grundsatz der „effizienten Leistungserbringung“ gemäß TKG,
– eine vorherige Genehmigung der Netzentgelte (Ex ante),
– Beteiligung der Länder für Netze mit maximal 100.000 Abnehmern und Belegenheit in nur einem Bundesland,
– eine effiziente Kontrolle der Regelenergiepreise u.a.
Ferner bemängelte der Bundesrat den Umfang des Gesetzes und der vielen neuen Berichtspflichten, die Überladenheit der Stromkennzeichnungspflicht etc.
Im Vermittlungsverfahren kam es wie durch ein Wunder zu einer sehr weitgehenden Annäherung von Regierung und Opposition, wohl in erster Linie bewirkt durch die Erkenntnis, dass es die Union nach den Landtagswahlen 2005 in Nordrhein-Westfalen in der Hand hatte, das gesamte Gesetz scheitern zu lassen, was zunächst auch erwogen worden war. Da die Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte, weil Deutschland mit der Anpassung seines Rechtsrahmens an die europäische Regulierungsrichtlinie säumig war, wäre leicht eine prekäre Situation entstanden, die durch die Einigung in letzter Sekunde vermieden wurde.
Die weitestreichende Änderung war zweifellos der Übergang von der Ex post-Kontrolle der Netzzugangsbedingungen und -entgelte zur Ex ante-Genehmigung durch die Bundesnetzagentur bzw. der Landesregulierungsbehörden (§§ 54ff.).131 Damit wurden die negativen Erfahrungen aus der Ex post-Kontrolle nach EnWG 1998 aufgegriffen. Die Unternehmen müssen ihre Entgelte vorab kalkulieren und genehmigen lassen. Das führte zu mehr Rechtssicherheit in zweierlei Hinsicht:
– Zum einen stieg die Gewähr für Netznutzer, dass die Entgelte rechtmäßig kalkuliert sind;
– zugleich konnten die Unternehmen gegenüber kritischen Netznutzern auf die Tatbestandswirkung der Genehmigung verweisen.
Die Etablierung von Landesregulierungsbehörden führte zugleich zur Dezentralisierung des Rechtsschutzes und damit zur Verminderung des „Flaschenhals-Effektes“ beim OLG Düsseldorf. Würden sich nämlich regulierte Netzbetreiber in dem Umfang gegen Entscheidungen der Agentur stemmen wie Telekom und Post, war mit dem Stillstand der Rechtspflege zu rechnen. Dabei muss bedacht werden, dass zwar die RegTP alt regelmäßig den Sofortvollzug der Regulierungsentscheidungen angeordnet hatte. Die Verwaltungsgerichte forderten die Behörde aber ebenso regelmäßig auf, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zur gerichtlichen Entscheidung abzusehen. Damit wurde die Schnelligkeit der gerichtlichen Entscheidung zugleich zur Voraussetzung einer effektiven Regulierung. „Effektiver Rechtsschutz“ hatte dann – fand er statt – mehrere Funktionen:
– Er verhalf der Agentur zur Durchsetzung ihrer Entscheidung,
– oder dem Netzbetreiber zur Durchsetzung seiner Rechtsauffassung,
– was zu relativ früher Rechtssicherheit führte; auch für den Verbraucher.
Im Ergebnis wirkt sich diese Effektivierung auch für die Unternehmen positiv aus, weil sie schneller wissen, „wo es lang geht“, und weniger Rückstellungen bilden müssen.