Xaverna. Antonia Kraus

Xaverna - Antonia Kraus


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erreichte. Wie erwartet waren noch genügend Fahrradständer frei. Nachdem ich mein Rad angeschlossen hatte, schlenderte ich gelassen über den Platz.

      Sowohl der Waffelstand als auch der Backfisch King waren noch geöffnet, ebenso konnte man noch in den Salzhütten speisen, jedoch keine Fischbrötchen mehr mitnehmen. An der Seebrücke hielt ich kurz an, schwankte, wohin ich mich wenden sollte. Schließlich entschied ich mich für die Brücke.

      Zum Glück war es ziemlich warm für einen Abend Anfang Juli. Außerdem war ich den Wind gewohnt, der mir in die Kleider fuhr und meine Haare zerzauste. Das Rauschen der Wellen zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Beschwingt gelangte ich ans Ende der Seebrücke. Ich stützte beide Arme auf das Geländer und schaute auf die Wellen, die unter mir schäumend brachen und gegen die Stützpfeiler krachten. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie lange ich so dagestanden und versonnen auf das Wasser geblickt hatte, aber es waren gewiss einige Minuten verstrichen. Plötzlich spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern. Erschrocken fuhr ich aus meiner Trance, drehte mich um. Unauffällig hatte Jördis sich von hinten herangeschlichen.

      Jördis war knapp zwei Jahre älter als ich, aber das störte uns in keiner Weise: Wann immer wir uns sahen, hatten wir jede Menge Spaß miteinander! Gemeinsam konnten wir sämtliche Ärgernisse des Alltags vergessen.

      Ich strahlte Jördis an. „Schön, dass du gekommen bist!“ „Klar, immer wieder gerne. Was hältst du von einer kleinen Bootsfahrt?“ Jördis‘ Vater vermietete Tretboote auf der ganzen Insel, doch sein Hauptsitz lag hier in Koserow, sodass uns an urlauberarmen Tagen stets kostenlos ein Boot zur Verfügung stand. Diesen großen Vorteil nutzten wir nicht selten, denn solche Touren wurden auch beim hundertsten Mal nicht langweilig. Ich folgte Jördis an den Strand, wo sie eins der Boote von der Sicherungskette befreite. Mit vereinten Kräften schoben wir es ins Meer. Als es auf den sanften Überbleibseln der Wellen schaukelte, wateten wir knietief ins Wasser, wobei wir das Boot vor uns hertrieben. Erst dann kletterten wir auf die Sitze.

      Beim Treten schlugen wir automatisch den gleichen Rhythmus an. Dieser hatte sich nach den jahrelangen gemeinsamen Ausflügen einfach so eingepegelt. Wie immer hielt ich den Steuerknüppel, denn Jördis war seit jeher der Auffassung, dass sie im Lenken „eine Niete“ sei. Dabei war es im Grunde ganz egal, in welche Richtung wir schipperten. Meist fuhren wir außerhalb der Badezone, besonders im Sommer, wegen der Schwimmer. Angst vor dem offenen Meer hatten wir keine, schließlich begleitete es uns bereits unser ganzes Leben lang.

      Irgendwann, längst hatten wir die Bojen hinter uns gelassen, fragte Jördis einfach nur: „Und?“ Ich seufzte. Mir war klar, was sie meinte: Ob ich denn endlich eine Zusage erhalten hätte. Resigniert schüttelte ich den Kopf.

      „Wie viele Anfragen hast du gesendet?“ „21. Bisher sind 18 Absagen eingegangen.“ „Hast du noch Hoffnung auf eine positive Rückmeldung?“ „Ehrlich gesagt, nein. Ach Jördis, was soll ich nur tun? Ich habe alles versucht. Es muss doch irgendwie möglich sein, das Buch drucken zu lassen!“ Jördis legte mir eine Hand auf die Schulter. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie erwiderte: „Es gibt da etwas, das ist wie eine Art Verlag. Schon mal was von ‚Books Selfmade‘ gehört? Du kannst dort verschiedene Leistungen kaufen – Lektorat, Design, ISBN und solche Dinge. Dann legst du eine Exemplarzahl für den Erstdruck fest. Du zahlst einen Pauschalpreis pro Buch, den Verkaufspreis suchst du dir danach einfach selbst aus, wobei er nicht viel höher sein wird, aber Grundkosten hast du keine, abgesehen von den Leistungen, die ich aufgezählt habe.“ Ich überlegte kurz. „Okay, ein echter Verlag ist das zwar nicht, aber inzwischen ist mir jedes Mittel recht. Kann man da auch eine zweite Auflage drucken lassen?“ Jördis nickte erfreut. „Na klar, jederzeit. Du musst eben die Bücher käuflich erwerben, sooft und so viele du willst.“ „Wie erreicht man diese Firma?“

      „Per Internet.“ Jördis reichte mir einen Zettel, den sie aus ihrer Tasche hervorgekramt hatte. Darauf standen die Adresse einer Website sowie eine Telefonnummer für weitere Rückfragen. Strahlend umarmte ich Jördis. Sie war eben eine echte Freundin! Ich bedankte mich auf das Herzlichste bei ihr, doch vor lauter Verlegenheit drängte sie rasch zur Umkehr. Mein Puls war gefühlt doppelt so hoch wie normal, als wir das Ufer erreichten. Obwohl ich mich bemühte, meine Aufregung zu verbergen, schien Jördis zu spüren, dass ich schleunigst nach Hause wollte. Zum Glück konnte ich sicher sein, dass sie mir deshalb nicht böse war. Sie war zu Fuß gekommen, daher trennten sich unsere Wege nach dem Verlassen des Strandes.

      Ich war auf dem Hinweg schon verhältnismäßig schnell gefahren, aber nun hatte ich den Eindruck, beinahe Lichtgeschwindigkeit zu erreichen. Auf dem Weg in mein Zimmer warf ich lediglich ein knappes „Wieder da!“ in die Küche.

      Sofort startete ich meinen Laptop. Noch befand er sich an seinem angestammten Platz auf dem Schreibsekretär, doch in den nächsten Tagen würde ich ihn wohl wieder mit nach draußen nehmen. Sobald der Computer fertig hochgefahren war, öffnete ich das Internet und wühlte Jördis‘ Zettel aus meiner Tasche hervor. Ohne zu zögern, tippte ich die darauf angegebene Adresse in die URL-Leiste ein. Ich wartete gespannt. Als die Seite endlich geladen war, wusste ich gar nicht, wo ich zu lesen anfangen sollte: Die Fülle an Informationen drohte mich schier zu erschlagen. Es war bereits stockdunkel, als ich den Laptop zufrieden wieder ausschaltete. Ich hatte die Hoffnung auf Zusagen endgültig aufgegeben, daher würde ich schon morgen mein Manuskript an „Books Selfmade“ schicken und ein paar erste Bücher anfordern.

       09. 07. 2010, Xaver

       Magisch. Dieser Plan ist einfach magisch. Ja, göttlich angehaucht, entworfen von mir. Alt ist Vater, zu alt, ein Greis, wehrlos. Mein Vorbild: Maximilien Robespierre. Es geht los.

       Ja, ich werde mich an das Schema halten, jedoch wird es nach meinen Regeln gestaltet. Oh, himmlisch! Ich habe heute bereits versucht, meinen Bruder Jacob einzuschüchtern. (Mir ist bewusst, dass das Aufgabe meines Vaters gewesen wäre, da ich ihn als Ludwig XVI. betrachte, doch das war schwer realisierbar, daher sprang ich selbst ein.) Er hatte Pläne für den Umbau der Höhle.

       Nach dem jetzigen Stand wäre das natürlich unausweichlich, aber so weit wird es MEIN Plan nicht kommen lassen. Ich habe ihm gedroht, ihn in Pension zu schicken. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass er mir glaubt. Nun, Vater würde meine Gründe auch nie akzeptieren, zumal Jacob erst 56 Jahre alt ist. Dennoch, Jacques Necker, der französische Finanzminister, war damals ebenfalls 56 Jahre alt und ließ sich am heutigen Tage vor 221 Jahren nicht einschüchtern. Insofern ist also kein Problem aufgetreten.

       In wenigen Tagen liegt die Höhle in meiner Hand. Vater wird machtlos sein, am 14. Juli setze ich seiner Herrschaft endlich ein Ende! Ganz ehrlich: Der Buchmarkt ist doch überfüllt. Wenn die Höhle erst meiner Aufsicht untersteht, werde ich gründlich ausmisten. Die großen Werke lasse ich natürlich bestehen – diejenigen, die ICH für groß halte. Bitte, Goethe oder Dante benötigt die Menschheit nicht!

       Es ist so leicht, so unglaublich leicht. Nur dieses lächerliche Erstexemplar muss ich zerstören und schon ist die Welt gereinigt von der ganzen Geschichte. Jawohl, eigentlich sollte ich genau das verhindern, doch es wird mich ungeachtet dessen niemand davon abhalten können! Denn ich beherrsche Magie!

       09. 07. 2010, Marek

       Dies ist der Beginn meines Tagebuchs. Ich weiß, wenn jemand davon erfährt, hab ich den Stempel „uncool“ auf der Stirn. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit mehr. Irgendwo müssen meine Gefühle eben hin, ich kann sie nicht ewig in mich hineinfressen.

       Es ist nämlich so: Seit einigen Wochen schon bekomme ich so ein komisches Gefühl im Bauch, wenn ich Cornelia treffe. Sie ist etwa zwei Jahre jünger als ich, kommt jetzt also in die neunte Klasse, und fährt mit dem gleichen Schulbus wie ich. Soweit ich das erkennen kann, ist sie sehr gut mit Jördis aus meiner Klasse befreundet. Na ja, jedenfalls … je länger ich sie beobachte, desto stärker wird dieses Gefühl. Es vereinnahmt mich richtig. Ich habe festgestellt, dass


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