Xaverna. Antonia Kraus

Xaverna - Antonia Kraus


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Der Himmel war etwas bedeckt, als ich mich frohen Mutes auf den Weg machte. Leider sah es trotzdem nicht nach Regen aus, sodass Scharen von Urlaubern sich zu einem Spaziergang auf dem Damm entschlossen hatten, wodurch ich Schlangenlinien um Omis mit Rollatoren und kleine Kinder mit Puppenwagen fahren musste. Nur so gelang es mir, ein halbwegs akzeptables Tempo anzuschlagen.

      Ich erreichte das Büro am späten Vormittag. Der einzige anwesende Redakteur zeigte sich von meiner Geschichte begeistert und versprach, den mitgebrachten Artikel definitiv in Kürze der Öffentlichkeit zu präsentieren. Außerdem sollte ich ihn unbedingt jederzeit über weitere interessante Ereignisse in Bezug auf das Buch informieren! Nachdem ich dies versprochen hatte, schwang ich mich bester Laune wieder auf mein Fahrrad. Als ich Zempin hinter mir gelassen hatte, drosselte ich mein Tempo merklich und legte an der Biegung, die wieder auf den Damm führte, eine Pause ein. Ich ließ mein Rad einfach stehen und kletterte auf die Düne, obwohl dies natürlich verboten war. Eine Weile blickte ich einfach nur auf das offene Meer hinaus, sah den Wellen beim Brechen zu, genoss, wie der Wind unter meine Kleidung fuhr. Normalerweise ließ ich es damit gut sein, kehrte nach ein paar Minuten zum Radweg zurück. Doch etwas hielt mich heute davon ab, vielleicht ahnte ich ja in der hintersten Ecke meines Gehirns, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand. Also wandte ich mich nach rechts und lief schräg auf die See zu. Irgendwann schwenkte ich um, um parallel zum Wasser zu gehen. Im Nachhinein war es mir nicht mehr möglich, die Gründe für mein Tun zu rekonstruieren – was auch daran liegen konnte, dass es bei einem mehr als halbherzigen Versuch blieb – derart weit war ich jedenfalls noch nie über die Düne gegangen. Ich konnte bereits den nächsten Strandzugang erkennen, da stoppte ich endlich.

      Wie um mich zu beruhigen, schaute ich mich gründlich um. Strandidylle pur. Nein, Moment! Was war das? Eine Wurzel, ja. Auf den ersten Blick kaum ungewöhnlich, aber es fehlte der passende Baum. Verwirrt hielt ich inne. Bestimmt bildete ich mir das nur ein, oder? Gewiss war dort rein gar nichts Besorgniserregendes, richtig? Doch ich konnte einfach nicht widerstehen, die Wurzel etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Langsam ging ich auf das seltsam gebogene Holz zu. Aus der Nähe fiel das Fehlen des Baumes kaum auf. Kurzerhand ergriff ich die Wurzel und riss daran. Schon dass sie nur ein kleines bisschen wackelte, kostete mich einige Anstrengung. Bevor es mir gelang, größere Veränderungen zu bewirken, musste ich eine erste Verschnaufpause einlegen. Gehörte die Wurzel vielleicht doch hierher? Beinahe fing ich an, das zu glauben, aber dann besann ich mich. Sie sah einfach zu bizarr aus, wie sie da baumlos aus der Öffnung ragte. Ich umfasste das Holz an einer anderen Stelle. Meine Knöchel traten weiß hervor, so stark umklammerte ich den Wurzelast. Mit aller Kraft stemmte ich meine Füße in den Boden und zog. Sand rieselte in meinen Turnschuh und schob sich unter meinen Strumpf, wo er unangenehm in meine Fußsohle stach. Urplötzlich flog ich nach hinten. Hatte ich es geschafft? War die Wurzel gelöst? Nein. Meine Augen weiteten sich, als ich aufblickte. Alles noch an Ort und Stelle, nur der Sand … ich konnte nicht sagen, was damit passiert war, doch ich war überzeugt, dass er mich zurückgeschleudert hatte.

      Fest entschlossen erhob ich mich und klopfte mir den Sand aus der Kleidung. Vielleicht war ja Gewalt gerade nicht die beste Lösung. Vielleicht sollte ich mir die Wurzel erst einmal aus der Nähe betrachten. Vielleicht würde sich dann eine ganz simple Lösung offenbaren. Vielleicht. Ich ging dicht vor dem mysteriösen Loch in die Hocke. Mit zusammengekniffenen Augen ließ ich meinen Blick über die Äste wandern. Nichts. Ich streckte die rechte Hand nach vorn und ließ meine Finger über jedes Zweigchen einzeln gleiten. Stopp! Ich fuhr den Zeigefinger wenige Millimeter zurück. Da war doch etwas, oder? Es fühlte sich an, wie … nun, Hebel war nicht ganz das richtige Wort, traf es aber noch am ehesten. Automatisch schob sich mein Finger in die Einbuchtung unter dem Hebel. Dann drückte er nach oben. Augenblicklich setzte ein lautes Rattern ein. Unwillkürlich sprang ich zurück, der Schreck stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Während die Lautstärke stetig anschwoll, begann die Wurzel sich zu drehen. Wie in Zeitlupe glitten die einzelnen Äste auseinander. Nach einigen Minuten schließlich gaben sie eine Öffnung frei, die groß genug war, dass ein Mensch hindurchpasste. Ich zögerte nur kurz, bevor ich mit dem Kopf vorneweg in das Loch kroch. Sofort umfing mich völlige Dunkelheit. Einen Moment lang bezweifelte ich, dass es eine gute Idee war, sich einfach ins Ungewisse zu zwängen. Was, wenn ich stecken blieb? Niemand war hier, der mir helfen konnte. Nur Sekunden später hatte meine Neugier gesiegt. Denn dass mich hier etwas Aufregendes erwartete, war mir spätestens seit der eigenmächtigen Bewegung der Wurzel klar. Anfangs war der Tunnel ziemlich eng, sodass es mich einige Mühe kostete, mich robbend nach vorne zu schieben. Aber schon bald weitete sich der Gang etwas und ich konnte vorwärts krabbeln. Wenig später hatte sich die Decke weit genug nach oben verlagert, sodass ein geducktes Gehen möglich war. Mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen auch etwas besser an die Dunkelheit, die mich umgab. Dennoch konnte ich nicht viel erkennen, was wohl daran lag, dass es schlichtweg nichts zu sehen gab. Abgesehen von Stein natürlich. Ich war vielleicht zehn Minuten gelaufen, als ich mich zu fragen begann, ob es überhaupt Sinn hatte weiterzugehen. Was würde mich erwarten? Offensichtlich etwas, von dem kaum jemand Kenntnis hatte, da es so gut versteckt war. Ich für meinen Teil lebte nun immerhin seit 15 Jahren auf Usedom und hatte noch nie etwas von diesem Gang in der Düne gehört. Möglicherweise war es ja auch gefährlich, zu tief nach innen zu dringen? Nun, Angst sollte mich nicht abhalten. Falls wirklich etwas Spannendes geschehen sollte, könnte ich bestimmt eine gute Story daraus machen. Ja, vielleicht ließe sie sich sogar im Genre Fantasy verkaufen, das liebten schließlich Jugendliche heutzutage!

      Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam, aber schmiedete Pläne für eine neue Geschichte! Genauso musste man wohl denken, wenn man als Autor brillieren wollte. Und das wollte ich!

      Während ich so dachte, nahm ich kaum wahr, wie der Gang allmählich in die Breite wuchs. Doch auf einmal erblickte ich im wahrsten Sinne des Wortes das Licht am Ende des Tunnels. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich es gern sehen wollte? Wie dem auch war, jedenfalls beschleunigte ich sofort meine Schritte. Vielleicht würde ich nun endlich etwas Interessantes entdecken. Ich lachte innerlich. Während ich meine letzten Gedanken noch einmal Revue passieren ließ, fühlte ich mich wirklich, als sei ich bereits mittendrin in meinem Fantasyroman. Gewiss würde sich das Ganze als völlig harmlos und unspektakulär erweisen, versuchte ich mir einzureden. Plötzlich machte der Gang eine Biegung. Mit einem Mal war ich von Licht umhüllt. Überrascht blinzelte ich ein paar Mal, bevor ich zumindest einige schemenhafte Umrisse erkennen konnte. Aber kaum dass meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, begann ich erneut zu blinzeln, diesmal aus Ungläubigkeit. Vor mir tat sich eine Höhle mit schier gigantischen Ausmaßen auf. Nicht nur, dass sie unmöglich unter unsere Insel passen konnte – schon gar nicht mit ihrer schmalen Breite hier am Achterwasser –, nein, sie war auch unglaublich hoch, ich musste wahrhaftig die ganze Zeit bergab gegangen sein. Ich spürte, wie sich ein angenehmes Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete. Meine Arme waren über und über mit Gänsehaut bedeckt. Der Grund dafür war relativ simpel: Vom Höhlenboden bis zur Höhlendecke zogen sich über das gesamte Areal riesige Reihen von gefüllten Bücherregalen. Ich traute meinen Augen noch immer kaum, als ich langsam anfing zu begreifen. Es brauchte ein paar Minuten, bis ich es wagte, die Höhle richtig zu betreten. Vorsichtig schritt ich auf das nächstliegende Regal zu. Mit jeder Sekunde wuchs meine Neugier um mehrere Meter. Mein Atem ging stoßweise, als ich endlich vor den ersten Bücherreihen stand. Staub lag auf den Regalbrettern und den Buchrücken. Die Werke waren wohl nach Autoren sortiert, diese jedoch ohne erkennbares System angeordnet. Nun gut, vielleicht nach einer groben Zeiteinteilung. Wobei die Betonung auf „grob“ lag – meines Erachtens existierten genau zwei Kategorien. „Alt“ und „Neu“. Denn ich fand neben den „Leiden des jungen Werther“ von Goethe Dante Alighieris „Commedia“ – auf Italienisch, wohlgemerkt. Liebend gern hätte ich eins dieser Bücher in die Hand genommen, einfach nur darin geblättert, aber ich überwand dieses Verlangen. Zu groß erschien mir die Gefahr, dass ich eine Seite beschädigen könnte; schließlich befanden sich hier eindeutig keine druckfrischen Exemplare. Eine Weile starrte ich unschlüssig auf die Regale, bevor ich ein wenig Staub von einem Brett wischte


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