Das Insolvenzgeld als Mittel zur Fortführung und Sanierung von Unternehmen. Nick Marquardt
macht; zum Münchhausen-Trilemma auch Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft. 13 Vgl. den Appell von K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Band 1 S. 268; Zippelius, Rechtsphilosophie S. 67. 14 Dazu nur ansatzweise Grepl, Die Funktionen des Insolvenzgelds. 15 Zippelius, Rechtsphilosophie S. 70. 16 Zippelius, Rechtsphilosophie S. 70. 17 Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit S. 29ff.
IV. Insolvenzgeld in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung
1. Der gesellschaftliche Wert des Insolvenzgeldes
Den sozialpolitischen, aber auch wirtschaftlichen Wert der Vorschriften zum Insolvenzgeld zu ermitteln, ist vergleichsweise einfach. Das Insolvenzgeld ist wirtschafts- und sozialpolitisch bedeutsam, obwohl es gesamtgesellschaftlich kaum Bekanntheit hat. Als Sozialleistung definiert es einen hohen Schutzstandard. Eins daher vorweg: Wann immer nachfolgend Kritik anklingt, handelt es sich um Kritik auf sehr hohem sozialstaatlichem Niveau. Durch die Umlagefinanzierung des Insolvenzgeldes bedarf es auch keiner paritätisch aufgebrachten Beiträge. Es ähnelt insoweit der Unfallversicherung. Das Insolvenzgeld ist im Hinblick auf seine Differenziertheit, Reichweite und Funktion international einzigartig. Die anklingende Kritik soll nicht dazu verleiten, sozialen Pessimismus zu schüren oder dem negativity bias zu verfallen.18 Zugleich sollen aber auch nicht die Probleme prekär Beschäftigter verkannt werden. Nur zur Einordnung: Das englische Recht sieht beispielsweise eine Begrenzung des Insolvenzgelds der Höhe nach vor. Aufgrund der „insolvency proceeding order 1986“ ist die Höhe des Insolvenzgelds auf monatlich maximal 800 Pfund begrenzt.19
2. Sanierung im finanzpolitischen Kontext
Keine Sanierung ohne Insolvenzgeld! So oder so ähnlich könnte die Losung der meisten Insolvenzverwalter lauten. Bei einem laufenden Geschäftsbetrieb wird sich der Insolvenzverwalter unverzüglich darüber informieren lassen, wie lange schon keine Löhne mehr gezahlt wurden. Umso mehr Löhne offen sind, desto kleiner wird die Sanierungschance. Diese These wird wohl die Mehrheit der Insolvenzverwalter, ohne zu zögern, unterstützen. Hintergrund im Insolvenzeröffnungsverfahren ist das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung. Allein im medial viel beachteten Insolvenzverfahren von Air Berlin flossen neben den unmittelbaren staatlichen Darlehen in Höhe von 150 Mio. EUR weitere ca. 46,3 Mio. EUR Insolvenzgeld an die Mitarbeiter.20 Für ein einzelnes Unternehmen ist das eine ganz erhebliche Summe. Die Summe ist aber mit dem Gesamtbundeshaushalt von 1,4 Mrd. EUR für Arbeit und Soziales ins Verhältnis zu setzen.21 Aus sozialrechtlicher und finanzpolitischer Sicht handelt es sich also nicht um die größte Position im Haushalt der sozialen Sicherung. Erheblich größeren finanziellen Einfluss haben die Leistungen nach dem SGB II sowie die Rentenleistungen. Diese verursachen Kosten in Höhe von ca. 1,04 Mrd. EUR.22 Gleichwohl sollte man den ökonomischen Einfluss des Insolvenzgelds auf den Arbeitsmarkt insgesamt nicht unterschätzen. Im besten Fall lassen sich damit Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft und vor allem auch Know-how erhalten. Die Synergieeffekte sind groß. Neben der unmittelbaren finanziellen Belastung des Bundeshaushaltes ist der Effekt auf die Volkswirtschaft vermutlich größer, als es zunächst aussieht. Das Verständnis für Herkunft und Grundlagen des Insolvenzgeldanspruches ist erforderlich, um die spätere Sanierungsrelevanz der Vorschriften zum Insolvenzgeld herauszustellen und überhaupt nachvollziehen zu können.
3. Überblick über weitere Sanierungsmittel
Selbstredend ist das Insolvenzgeld nicht das einzige Sanierungsinstrument für Insolvenzverwalter. Beliebte Sanierungsmittel können beispielsweise auch: das Gesellschafterdarlehen, die Durchführung einer Kapitalerhöhung, der Debt-Equity Swap (bei dem ein Gläubiger auf Forderungen zugunsten von Gesellschaftsanteilen verzichtet) oder die Umstrukturierung bzw. Abspaltung von Unternehmensteilen sein.23 Es ist nicht Teil dieser Arbeit, alle diese Sanierungsmittel auszuwerten und mit dem Insolvenzgeld zu vergleichen. Dennoch sollte man sich bewusstmachen, dass Sanierung selten nach nur einem einzigen Schema funktioniert. Eine Strategie, die für ein Unternehmen funktioniert, kann ein anderes in die Katastrophe führen. Manche der oben genannten Möglichkeiten kommen von vornherein nicht in Betracht, weil die Beteiligten beispielsweise nicht bereit sind, die entsprechenden Maßnahmen mitzutragen. Hier zeigt sich bereits ein wesentlicher Vorteil des Insolvenzgelds. Es ist weniger stark vom Willen der Beteiligten abhängig. Grundsätzlich kommt der Einsatz des Insolvenzgelds als Sanierungsmittel daher immer in Betracht. Das Insolvenzgeld als Sozialleistung an die Arbeitnehmer ist aber nicht bzw. nur sehr eingeschränkt den privatautonomen Regelungen der Marktwirtschaft unterworfen. Die Bundesagentur für Arbeit muss aufgrund der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begründen, warum sie die Auszahlung des Insolvenzgelds oder die Zustimmung zur Vorfinanzierung verweigert. Die Gewährung von Insolvenzgeld steht als Anspruch nicht im Ermessen der Behörde. Vertragspartner in der freien Wirtschaft sind nicht gesetzlich verpflichtet, Darlehen zu gewähren oder sich an einer Sanierung zu beteiligen. Die Bundesagentur für Arbeit ist es hingegen schon.
18 Vgl. dazu Rozin/Royzmann, Personality and Social Psychology Review 2001, Vol. 5, No. 4,296ff. 19 Abrufbar unter https://www.legislation.gov.uk/uksi/1986/1996/pdfs/uksi_19861996_en.pdf (zuletzt besucht am 7. Juni 2019, 16:00 Uhr). 20 So jedenfalls Handelsblatt v. 24. Januar 2018 abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/air-berlin-kunden-undmitarbeiter-gehen-leer-aus/20883904.html?ticket=ST-2706948-LWYJvzix-KoHX9VH3wGL5-ap6 (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 21 Bundeshaushalt 2019 abrufbar unter https://www.bundeshaushalt.de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan/11.html (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 22 Bundeshaushalt 2019 abrufbar unter https://www.bundeshaushalt.de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan/11.html (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 23 Vgl. zu den Möglichkeiten und deren steuerlicher Betrachtung Auswirkungen Sonnleitner, Insolvenzsteuerrecht Rn. 3–8.
V. Wo ist jetzt eigentlich das Problem?
1. Auslegung der §§ 165ff. SGB III
Zu Recht wird sich der Leser nun fragen, wo sich die juristischen Probleme im Zusammenhang mit dem Insolvenzgeld verbergen. Es geht tatsächlich weniger um eine allumfassende Darstellung der sozialrechtlichen Normen, sondern vielmehr um eine teilweise ökonomische, primär juristische, aber auch sozialpolitische Analyse des Insolvenzgelds unter rechtspraktischen Aspekten. Eine Schnittstellenmaterie, wie es das Insolvenzgeld ist, lässt keine punktuelle Darstellung oder Auslegung zu. Dementsprechend wird es notwendig sein, auch bei den einzelnen Rechtsfragen Schwerpunkte zu setzen. So werden in der Darstellung die wesentlichen Fragen zum konkreten Umfang des Insolvenzgelds ausgespart. Hier wäre eine Vielzahl von Einzelfällen aufzuarbeiten. Die praktische Relevanz ist zwar gerade für die Arbeitnehmer groß, aber es hat sich diesbezüglich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt. Dabei kommt es stark auf die individualvertraglichen Vereinbarungen an. Die Aufarbeitung dieser Fallgruppen soll daher der Kommentarliteratur überlassen bleiben.24
Stattdessen soll es zunächst ganz allgemein um die juristische Entwicklung des Insolvenzrechtes und der Vorfinanzierung gehen. Ganz ohne historischen Abriss wird das nicht funktionieren. Schon hier werden sich wesentliche Unterschiede zwischen Insolvenzgeld einerseits und der Sanierungsfunktion der Insolvenzordnung andererseits zeigen. Danach folgt die Darstellung der Regelungen zum Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung.