Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
Informationsaustausch ist dann ohne kartellrechtliche Relevanz, wenn aus den Informationen keine Rückschlüsse mehr auf das aktuelle oder künftige Verhalten eines Unternehmens gezogen werden können, etwa weil die Daten zu alt oder generisch bzw. aggregiert sind, oder wenn es sich um echte öffentliche Informationen handelt.158 Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist jeweils im Einzelfall zu prüfen.
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Erhält ein Unternehmen strategisch relevante Informationen nicht direkt vom Wettbewerber, sondern vom neutralen Dritten, wie z.B. von einem Kunden im normalen Geschäftsverlauf, kann dies zulässig sein. Vorsicht ist geboten, wenn Dritte strategisch oder institutionalisiert zur Informationsbeschaffung eingesetzt werden159 oder gar als Moderator für einen unzulässigen Informationsaustausch oder eine Verhaltenskoordinierung eingesetzt werden. Letzteres ist unter dem Stichwort der Hub-and-spoke-Kartelle unter anderem von den Kartellbehörden in Großbritannien und Frankreich scharf sanktioniert worden.160 Der unzulässige Informationsaustausch über Dritte ist auch bei der Teilnahme eines Unternehmens an Marktinformationssystemen oder anderen statistischen Datensammlungen, wie z.B. Benchmarking-Studien auf Verbandsebene, kartellrechtlich stets genau zu prüfen.161
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Da der unzulässige Informationsaustausch für nahezu jedes Unternehmen von besonderer praktischer Relevanz ist, sind Verhaltensrichtlinien in diesem Bereich besonders wichtig, um Mitarbeitern konkrete Anweisungen an die Hand zu geben, wie sie auf kritische Situationen richtig reagieren bzw. eine unzulässige Diskussion strategischer Informationen oder ihre bloße „Entgegennahme“ von vornherein vermeiden können. Aus diesen Verhaltensrichtlinien muss deutlich werden, dass:
– das bloße passive Zuhören die Risiken aus einem rechtswidrigen Informationsaustausch nicht ausschließt;
– der Mitarbeiter strategische Informationen von einem Wettbewerber stets explizit zurückweisen muss;
– Vorfälle solcher Art unverzüglich an die Rechts-/Compliance-Abteilung oder eine andere geeignete Stelle im Unternehmen gemeldet werden müssen, damit eine Risikoanalyse stattfinden und geprüft werden kann, ob weitere Reaktionen oder Konsequenzen erforderlich sind.
3. Gefahrenbereich Verbandstätigkeit
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Die Compliance-Bemühungen auf Verbandsebene haben sich in den letzten Jahren signifikant verbessert, nachdem Verbände zunehmend in das Visier der Kartellbehörden geraten sind.162 Dennoch bleiben Verbandstreffen ein klarer Risikobereich für unzulässige Kartellabsprachen und insbesondere den unzulässigen Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern, da der Verband ein Ort ist, an dem Wettbewerber regelmäßig und organisiert zusammenkommen. Es gibt zahlreiche (legale) Initiativen, die ein solches Zusammenkommen rechtfertigen und vielleicht sogar notwendig machen. Es gibt aber auch zahlreiche Gelegenheiten, um anlässlich solcher Zusammenkünfte gewollt oder ungewollt Teil einer kartellrechtswidrigen Abrede zu werden.
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Aus Unternehmenssicht muss für eine wirkungsvolle Compliance-Arbeit zunächst geklärt werden, welche Mitarbeiter an welchen Verbandsaktivitäten teilnehmen. Je nach Ergebnis dieser Bestandsaufnahme bietet es sich in diesem Zusammenhang an, kritisch zu hinterfragen, ob die Teilnahme der jeweiligen Mitarbeiter sachlich gerechtfertigt ist. Eine sehr effektive Maßnahme ist es, Unternehmensmitarbeiter mit hoher operativer und strategischer Bedeutung (z.B. den Leiter Vertrieb oder Einkauf) aus der Verbandsarbeit auszuklammern und von vorneherein nur Personen zu schicken, die aufgrund ihrer Funktion keine unmittelbare Gefahr eines unzulässigen Informationsaustausches auslösen. Für die Zukunft sollte sichergestellt sein, dass jede Verbandsmitarbeit erfasst und zuvor freigegeben ist, bevor der jeweilige Unternehmensmitarbeiter seine Tätigkeit aufnimmt. Bestehen Zweifel, muss die Teilnahme ausgesetzt werden, bis die Zulässigkeit geklärt ist.
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Auf diese Weise lässt sich sicherstellen, dass Unternehmensmitarbeiter, die an Verbandsaktivitäten teilnehmen
– vorrangig kartellrechtlich geschult werden und
– klare Verhaltensregeln an die Hand bekommen, wie sie sich in konkreten Situationen richtig verhalten.
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Im Verbandskontext ist es dabei besonders wichtig, dass die entsprechend geschulten Mitarbeiter schon die Tagesordnung auf kartellrechtlich kritische Punkte hin durchsehen, um Zweifel über Diskussionen einzelner Tagesordnungspunkte bereits im Vorfeld abzuklären und ausräumen zu lassen. Zudem müssen in die Verbandsarbeit eingebundene Unternehmensmitglieder verinnerlicht haben, dass sie kartellrechtlich problematische Diskussionen unter deutlichem Hinweis abbrechen und ggf. die Sitzung verlassen und dies im Protokoll vermerken lassen müssen, um kartellrechtliche Risiken für das Unternehmen (d.h. ein eigenes Bußgeld oder eine Ausfallhaftung für einen zahlungsunfähigen Verband, siehe Rn. B 144) auszuschließen.
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Neben dem generellen Risiko, dass der Verband als Ort für unzulässige Absprachen oder einen unzulässigen Informationsaustausch genutzt wird,163 ist im Verbandskontext insbesondere darauf zu achten, dass jede Form der statistischen Datensammlung, gleich ob im Zusammenhang mit Absatzstatistiken oder Benchmarking-Aktivitäten, mit kartellrechtlichen Grundsätzen im Einklang steht. Eine zulässige Datensammlung setzt insbesondere voraus, dass die individuellen Unternehmensdaten von einer neutralen, zur Verschwiegenheit verpflichteten Person (und nicht etwa vom Angehörigen eines Mitgliedsunternehmens) ausgewertet werden und nur in nicht-identifizierbarer Form, d.h. nur in solcher Form wieder an die Mitgliedsunternehmen herausgegeben werden, dass Rückschlüsse auf aktuelles oder künftiges Wettbewerbsverhalten von Wettbewerbern nicht mehr möglich sind.164
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Auch aus Verbandssicht ist es notwendig, sich proaktiv mit kartellrechtlicher Compliance zu befassen. Gerade in Branchen, in denen auf Mitgliederebene noch wenig Bewusstsein für die Gefahren von Kartellverstößen besteht, ist der Verband ein zentrales Forum, um dieses Bewusstsein zu schärfen. Dies gilt schon deshalb, weil der Verband und seine Organe selbst sicherstellen müssen, nicht gegen Kartellrechtsregeln zu verstoßen. Haben Verbandsorgane und -mitarbeiter Kartellaktivitäten gefördert, sind sie nach ständiger Praxis, insbesondere des Bundeskartellamtes, selbst Verfahrensbeteiligte und werden bei Nachweis der kartellrechtswidrigen Aktivitäten auch mit Bußgeldern belegt.165 Dies gilt wegen des im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Einheitstäterbegriffs auch dann, wenn ihr Tatbeitrag regelmäßig „nur“ in physischer oder psychischer Beihilfe zu den Verstößen ihrer Mitglieder bestanden hat. Mit der 10. GWB-Novelle können Geldbußen gegen einen Verband – statt am eigenen Gesamtumsatz – alternativ auch am Gesamtumsatz seiner Mitglieder ausgerichtet werden, die auf dem vom Kartellverstoß des Verbandes betroffenen Markt tätig waren (§ 81c Abs. 4 GWB). Bei fehlender Zahlungsfähigkeit des Verbandes kann die Geldbuße auch direkt bei den Mitgliedsunternehmen eingetrieben werden. Für Unternehmen, deren Vertreter zum Zeitpunkt des Verstoßes den Entscheidungsgremien des Verbandes angehört haben, besteht dabei ein erhöhtes Risiko der Ausfallhaftung. Die neu eingeführte Regelung des § 81b GWB entspricht der europäischen Regelung in Art. 23 Abs. 4 VO Nr. 1/2003. Auch wenn die Ausfallhaftung in der Praxis der Kommission bislang keine besondere Relevanz erlangt hat, bedeutet dies nicht, dass das Bundeskartellamt künftig davon keinen Gebrauch machen wird. Vor diesem Hintergrund ist die genaue Prüfung umso wichtiger, welche Unternehmensvertreter in welcher Funktion in welchen Verbänden aktiv sind.
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Der Fallbericht zur Wirtschaftsvereinigung Stahl166 zeigt, dass nicht selten eine umfassende Reorganisation von Verbandsabläufen nach Feststellung von Kartellverstößen erforderlich ist, um die Überlebensfähigkeit eines Verbandes zu sichern. Rein praktisch ist die Kündigung der Verbandsmitgliedschaft für viele Unternehmen