Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
in Ausschreibungen der Gemeinden und Kommunen zugelassen zu werden, siehe dazu unter Rn. C 111ff. sowie Fn. C 100.
V. Das Kartellverbot – Einführung
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Die Verhaltenskontrolle nach europäischem und deutschem Kartellrecht ist zum einen verankert im Kartellverbot, das zwei- oder mehrseitige Abreden zwischen Unternehmen adressiert, sowie zum anderen im Verbot missbräuchlichen Verhaltens, das sich gegen Verhalten von Unternehmen mit Marktmacht richtet.
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Das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB schützt den Wettbewerb, indem es wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen zwischen zwei oder mehr Unternehmen verbietet. Einseitige Verhaltensweisen unterfallen nur dann der Kontrolle durch das Kartellrecht, wenn sie den Wettbewerb durch eine missbräuchliche Ausnutzung von Marktmacht beschränken (Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB).
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Während das deutsche GWB seit 2005 im Hinblick auf die Beurteilung zwei- oder mehrseitiger Wettbewerbsbeschränkungen fast vollständig an das europäische Kartellrecht angeglichen ist, lässt das europäische Kartellrecht den nationalen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Beurteilung einseitiger Verhaltensweisen die Möglichkeit, strengere Maßstäbe anzulegen. Hiervon macht das deutsche Kartellrecht Gebrauch. Das GWB verfügt also über weitergehende Eingriffsmöglichkeiten bei einseitigem Wettbewerbsverhalten als das europäische Kartellrecht.101
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Vereinbarungen, die gegen das Kartellverbot verstoßen, ohne dass die Voraussetzungen für eine Freistellung vorliegen, sind nichtig und können nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO 1/2003 von der Kommission bzw. nach § 81 Abs. 1, 2, 4 GWB vom Bundeskartellamt mit Bußgeldern von bis zu 10 % des weltweiten Konzernumsatzes der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen belegt werden. Diese und andere Rechtsfolgen, mit denen ein Unternehmen bei einem Verstoß gegen kartellrechtliche Regeln rechnen muss, sind ausführlich in Rn. B 39ff. dargestellt.
1. Verbot und Ausnahme – grundsätzliche Regelungstechnik
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Das deutsche und europäische Kartellverbot entsprechen sich im Wortlaut mittlerweile und folgen der gleichen Regelungstechnik: Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie § 1 GWB verbieten Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken.102 Das europäische Kartellverbot verlangt darüber hinaus das Potenzial zur spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.103
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Das europäische und deutsche Kartellverbot verbieten sowohl wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern104 (sog. „horizontale Vereinbarungen“) als auch zwischen Nicht-Wettbewerbern (sog. „vertikale Vereinbarungen“).
2. Ausnahmen vom Kartellverbot – Legalausnahme
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Nach beiden Rechtsordnungen liegt kein Verstoß gegen das Kartellverbot vor, sofern die Voraussetzungen für eine Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB gegeben sind.
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Die gleichlautenden Legalausnahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV sowie § 2 GWB nehmen vom Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB erfasste Wettbewerbsbeschränkungen dann vom Kartellverbot aus, wenn – wie die Kommission in ihren Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EGV105 (Art. 81 Abs. 3-Leitlinien; nunmehr Art. 101 Abs. 3 AEUV) vereinfacht zusammenfasst – die wettbewerbsfördernden Auswirkungen einer Beschränkung die negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb überwiegen.106 Dies ist der Fall, wenn die Parteien einer beschränkenden Vereinbarung nachweisen können, dass die folgenden vier Voraussetzungen vollständig erfüllt sind:
– Die Wettbewerbsbeschränkungen dienen der Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts;
– die Verbraucher werden am Gewinn angemessen beteiligt;
– die Wettbewerbsbeschränkungen sind für die Verwirklichung dieser Ziele unerlässlich;
– die Vereinbarung eröffnet den Parteien nicht die Möglichkeit, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.
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Bereits im Jahre 2004 hat die Kommission, im Jahre 2005 das Bundeskartellamt, die zuvor bestehende Anmeldemöglichkeit für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen abgeschafft, nach der eine beschränkende Vereinbarung der Behörde zur Prüfung vorgelegt und von dieser freigegeben oder für unbedenklich erklärt werden konnte. Die Einschätzung, ob eine Vereinbarung die Voraussetzungen einer Freistellung vom Kartellverbot erfüllt, obliegt allein den Unternehmen.107 Nicht zuletzt aufgrund der sehr weit gefassten Legalausnahme ist diese Selbsteinschätzung mit vielen Unwägbarkeiten behaftet: Sie setzt regelmäßig eine umfassende ökonomische Analyse des jeweiligen Markt- und Wettbewerbsumfelds durch die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen voraus. Entsprechend groß ist deshalb die praktische Bedeutung der Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen).
3. Gruppenfreistellungsverordnungen und ihre Systematik
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GVOen sind Rechtsverordnungen der Europäischen Kommission, in denen die Voraussetzungen formuliert sind, unter denen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen in typischen Vertragskonstellationen automatisch vom Kartellverbot freigestellt sind. Den GVOen kommt damit die Rolle eines sicheren Hafens (safe harbour) zu. Oder rechtlich ausgedrückt: Ist eine beschränkende Vereinbarung durch eine GVO erfasst und hält deren Vorgaben ein, sind die Parteien von ihrer Verpflichtung nach Art. 2 VO 1/2003 entbunden, d.h. sie müssen nicht nachweisen, dass ihre individuellen vertraglichen Beschränkungen sämtliche Voraussetzungen der Legalausnahme erfüllen. Sie müssen lediglich beweisen, dass die Vereinbarung unter die jeweilige GVO fällt.108 Die GVOen sind über § 2 Abs. 2 GWB unmittelbarer Bestandteil des nationalen deutschen Kartellrechts.
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Mittlerweile gehen alle GVOen von der gleichen Regelungs- bzw. Freistellungssystematik für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen aus, die regelmäßig als „Schirmtechnik“ bezeichnet wird: Danach sind innerhalb bestimmter Marktanteilsgrenzen alle in den Anwendungsbereich der jeweiligen GVO fallenden beschränkenden Vereinbarungen freigestellt, sofern sie in der jeweiligen GVO nicht explizit als unzulässige Kernbeschränkungen bzw. als nicht freigestellte Beschränkungen aufgeführt sind.109 Kernbeschränkungen stellen dabei schwerwiegende bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen dar, die sowohl die Anwendbarkeit der GVO selbst als auch regelmäßig die Freistellung der beschränkenden Vereinbarung auf Grundlage der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB ausschließen.110 Nicht freigestellte Beschränkungen sind weniger schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen, die zwar nicht mehr von einer GVO erfasst und damit nicht „automatisch“ freigestellt sind, für die ggf. aber eine Freistellung möglich ist, wenn die Parteien das Vorliegen der Voraussetzungen der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB individuell nachweisen.111
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Die wichtigsten GVOen im Unternehmensalltag sind:112
– die Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung