Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
oder bestimmten Formen der Submissionsabsprachen), werden die Umsatzerlöse herangezogen, die ohne die Zuwiderhandlung vermutlich erzielt worden wären.57 Das so festgesetzte Schadenspotenzial wird mit folgenden Faktoren multipliziert, um der Gesamtunternehmensgröße Rechnung zu tragen:
Faktor | 2–3 | 3–4 | 4–5 | 5–6 | > 6 |
Gesamtumsatz d. Unternehmens i.S.d. § 81 Abs. 4 S. 2 GWB | < 100 Mio. € | 100 Mio. € bis 1 Mrd. € | 1 Mrd. € bis 10 Mrd. € | 10 Mrd. € bis 100 Mrd. € | > 100 Mrd. € |
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Innerhalb des Bemessungsspielraums erfolgt eine Eingrenzung des Bußgeldes anhand der 10 %-Obergrenze auf der Grundlage der Gesamtabwägung der schärfenden und mildernden Faktoren. Dabei zieht das Bundeskartellamt tatbezogene Kriterien wie Art und Dauer des Verstoßes, Bedeutung der Märkte sowie Organisationsgrad unter den Beteiligten heran und hält fest, dass für schwerwiegende Kartellverstöße wie insbesondere Preis-, Quoten-, Gebiets- und Kundenabsprachen eine Einordnung im oberen Bereich stattfinden wird. Relevante tatbezogene Kriterien sind die Rolle des Unternehmens im Kartell, dessen Marktstellung, Besonderheiten der Wertschöpfungstiefe, der Grad des Vorsatzes/der Fahrlässigkeit, vorangegangene Verstöße und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.58 Die Bußgeldpraxis des Bundeskartellamtes ist herber Kritik ausgesetzt. Diese setzt vor allem an dem Auseinanderfallen der Bußgeldzumessung des Amtes mit dem Vorgehen der Gerichte an, die sich für die Bußgeldzumessung nicht an den Leitlinien des Bundeskartellamtes, sondern allein am gesetzlichen Rahmen orientieren. Praktische Folge ist, dass eine Überprüfung der behördlichen Bußgelder vor Gericht für betroffene Unternehmen zu einer substanziellen Verböserung führen kann.59
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Das Bundeskartellamt behält sich vor, die wirtschaftlichen Vorteile aus der Zuwiderhandlung im Rahmen des Bußgeldverfahrens oder eines separaten Verfahrens nach §§ 32, 34 GWB zu entziehen.
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Anstelle der Verhängung eines umsatzbezogenen Bußgeldes kann das Bundeskartellamt Verstöße auch nach dem festen Bußgeldrahmen des § 81c Abs. 1 GWB ahnden. Schwere Kartellrechtsordnungswidrigkeiten können mit einer Geldbuße von bis zu EUR 1 Mio., sonstige Kartellrechtsordnungswidrigkeiten gemäß § 81 Abs. 4 S. 5 GWB mit einer Geldbuße von bis zu EUR 500.000 belegt werden.
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Für die hier in Rede stehenden Verstöße, die mit einem wirksamen Compliance-Programm aufgedeckt bzw. verhindert werden sollen, spielt der feste Bußgeldrahmen in der Regel keine Rolle. Diese Verstöße werden nach dem umsatzbezogenen Bußgeldrahmen sanktioniert. Mit der zunehmenden Bedeutung zivilrechtlicher Folge-Schadensersatzklagen (sog. follow-on damage claims), ist der Gedanke der Vorteilsabschöpfung bei der Bemessung von Bußgeldern durch das Bundeskartellamt schon lange in den Hintergrund getreten. Die derzeitigen Bußgelder des Bundeskartellamtes sind reine Ahndungsbußgelder.
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Das Bundeskartellamt ist eine sehr aktive Verfolgungsbehörde, die der Kommission auch in der Höhe der für Kartellrechtsverstöße verhängten Bußgelder kaum nachsteht.
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Das bislang höchste Bußgeld in seiner Geschichte von insgesamt EUR 646 Mio. verhängte das Bundeskartellamt gegen mehrere führende Stahlhersteller wegen Kartellabsprachen bei Grobblechen im Dezember 2019.60 Nur wenige Wochen zuvor hatte das Bundeskartellamt bereits Bußgelder in Höhe von EUR 100 Mio. gegen verschiedene Automobilhersteller wegen Absprachen beim Einkauf von Langstahl verhängt.61 Im Januar 2020 sanktionierte das Bundeskartellamt verschiedene Anbieter von Pflanzenschutzmitteln mit einem Gesamtbußgeld von EUR 156 Mio. Die Unternehmen hatten ihre Bruttopreislisten für Pflanzenschutzmittel untereinander abgestimmt.62 Wie die Kommission konzentriert sich auch das Bundeskartellamt keineswegs auf eine Verfolgung von Großkonzernen, wie sich z.B. an jüngeren Bußgeldern gegen Lesezirkel-Anbieter63 oder Fahrradgroßhändler64 zeigt.
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Das Bundeskartellamt nimmt auch bei der Sanktionierung vertikaler Kartellrechtsverstöße eine Rolle ein, mit der das Amt durchaus als Vorreiter im europäischen Kontext gelten kann. Im Fokus der Verfolgungspraxis steht dabei die direkte wie indirekte Preisbindung des Handels.65 Regelmäßig spielen in der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamts auch kartellrechtswidrige Vereinbarungen eine Rolle, mit denen Hersteller günstige Preise von Online-Händlern zu unterbinden suchen. Bußgelder für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung waren in der Fallpraxis des Bundeskartellamtes bislang seltener, können in ihrer Höhe aber ebenso substanziell ausfallen.66
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Mit der 10. GWB-Novelle sind Compliance-Programme erstmals als bußgeldmildernder Faktor in das Gesetz aufgenommen worden. Im Rahmen der in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 und Nr. 5 GWB verankerten Compliance-Defense können nun vor und nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen bei der Festsetzung der Geldbuße zugunsten der Unternehmen berücksichtigt werden.67
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Zuvor waren Compliance-Programme schon im Kontext von Submissionsabsprachen relevant: Hier ist der Nachweis eines Compliance-Programms in Form von konkreten „technische[n], organisatorische[n] und personelle[n] Maßnahmen“ gesetzlich verankerte Voraussetzung der Selbstreinigung, um gemäß § 125 GWB eine vorzeitige Löschung des Unternehmens aus dem Wettbewerbsregister zu erwirken und so sicherzustellen, dass es wieder bei Vergabeverfahren berücksichtigt werden kann.68 Auch in den Reformüberlegungen zum Verbandssanktionenrecht wurden Compliance-Programme erwähnt.69
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Das Bundeskartellamt verhängt wegen Kartellrechtsverstößen auch Bußgelder gegen bestimmte für das Unternehmen handelnde Mitarbeiter. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Verfahren der Kommission, das sich nur gegen Unternehmen richtet. Anders als das reine Verwaltungsverfahren der Kommission richtet sich das Bußgeldverfahren nach dem GWB nach OWiG und StPO und geht somit stets von der Haftung des Individuums aus. Die Unternehmensmitarbeiter sind im deutschen Bußgeldverfahren die handelnden Verletzer, die Unternehmen dagegen nur Nebenbetroffene, denen das Verhalten bestimmter Mitarbeiter zugerechnet wird.
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Im Hinblick auf die bußgeldpflichtigen Personen nach dem deutschen GWB sind insoweit drei Gruppen von Unternehmensmitarbeitern zu unterscheiden:70
– Zum einen die unmittelbar handelnden Mitarbeiter, die selbst „Unternehmenseigenschaft“ haben71 oder denen die Unternehmenseigenschaft nach § 9 OWiG zugerechnet wird, weil sie gesetzlicher Vertreter eines Unternehmens sind und/oder für dieses eigene Aufgaben mit Leitungsfunktion wahrnehmen (z.B. Leiter der Rechtsabteilung, Leiter der Vertriebsabteilung etc.);
– sodann beteiligte Mitarbeiter, die eine Person mit Unternehmenseigenschaft oder zugerechneter Unternehmenseigenschaft mit einer physischen oder psychischen Beihilfehandlung im Sinne des § 14 OWiG unterstützen (z.B. die Sekretärin eines Vorstandsmitglieds, die dieses bei der Organisation des Kartells unterstützt);
– und schließlich aufsichtspflichtige Mitarbeiter nach § 130 OWiG, für den Fall, dass ein Unternehmensmitarbeiter, der selbst nicht bußgeldpflichtig ist, einen Kartellverstoß begeht, den die aufsichtspflichtige Person vorsätzlich oder fahrlässig nicht verhindert hat.
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Das Bundeskartellamt muss zwar für jeden Einzelfall und für jedes beteiligte Unternehmen die internen Verantwortlichkeiten feststellen.72 In der Praxis kommt es allerdings nicht vor, dass das Bundeskartellamt bei der Suche nach einem verantwortlichen Unternehmensmitarbeiter nicht „fündig“ wird. Dies gilt, obwohl das Organisationsverschulden gegenüber dem täterschaftlichen Handlungsverschulden subsidiär ist.
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Der maximale Bußgeldrahmen