Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
beteiligt waren und deshalb von einem Auftrag auszuschließen sind oder ausgeschlossen werden können. § 123 Abs. 1 und 4 GWB beinhalten Delikte, für die rechtskräftige Verurteilungen, Strafbefehle oder Bußgeldentscheidungen zwingend zum Ausschluss aus dem Vergabeverfahren führen (darunter Bestechung, Menschenhandel, Bildung krimineller Vereinigungen, Terrorismusfinanzierung, Geldwäsche, Vorenthalten von Sozialabgaben, Steuerhinterziehung). Zu den in § 124 GWB aufgeführten fakultativen Ausschlussgründen zählen Submissionsabsprachen sowie Verstöße gegen das Kartellrecht. Nach drei (fakultative Ausschlussgründe) bzw. fünf Jahren (zwingende Ausschlussgründe) sind die Einträge zu löschen. Allerdings haben Unternehmen die Möglichkeit, durch eine Selbstreinigung eine vorzeitige Löschung zu erwirken. Die Voraussetzungen der Selbstreinigung sind in § 125 GWB explizit geregelt: Dazu ist erforderlich, dass das Unternehmen (i) für jeden durch eine Straftat oder ein Fehlverhalten verursachten Schaden einen Ausgleich gezahlt oder sich zur Zahlung eines Ausgleichs verpflichtet hat, (ii) die Tatsachen und Umstände, die mit der Straftat oder dem Fehlverhalten und dem dadurch verursachten Schaden in Zusammenhang stehen, durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden und dem öffentlichen Auftraggeber umfassend geklärt hat, und (iii) konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen hat, die geeignet sind, weitere Straftaten oder weiteres Fehlverhalten zu vermeiden.
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Letzteres setzt ein wirksames Compliance-Programm voraus. Wie dieses konkret ausgestaltet werden muss, hat das Bundeskartellamt als Registerbehörde in seinen Anfang Juni 2021 zum Zwecke der öffentlichen Konsultation veröffentlichten Entwurfsfassungen von „Leitlinien zur vorzeitigen Löschung einer Eintragung aus dem Wettbewerbsregister wegen Selbstreinigung“ sowie von „Praktischen Hinweisen für einen Antrag“ dargelegt (abrufbar unter www.bundeskartellamt.de/DE/Wettbewerbsregister).
5. Schadensersatzrisiken
„Einen ergänzenden Beitrag zur Abschreckungswirkung des Kartellrechts leistet in den letzten Jahren zunehmend das Instrument privater Schadensersatzklagen. Müssen Kartellmitglieder neben einem empfindlichen Bußgeld auch mit zusätzlichen Forderungen der geschädigten Kunden auf Schadensersatz rechnen, schwächt dies spürbar die Attraktivität illegaler Absprachen. Die Bedingungen für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen Kartellrechtsverstößen haben sich durch die zunehmende gerichtliche Praxis und höchstrichterliche Entscheidungen in den vergangenen Jahren weiter verbessert.“
Informationsbroschüre des Bundeskartellamtes 2017 – Erfolgreiche Kartellverfolgung – Nutzen für Verbraucher und die Wirtschaft
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In der Praxis haben die finanziellen Risiken durch Schadensersatzklagen in Folge von Kartellrechtsverstößen mittlerweile eine Bedeutung eingenommen, die die behördlichen Bußgelder im Summe um ein Vielfaches übersteigen können.91 Das Geltendmachen von kartellrechtsbedingten Folgeschäden ist dabei durch umfassende Gesetzesreformen erheblich erleichtert worden. Dahinter steht der politische Wille auf EU-Ebene, durch einen deutlich erleichterten zivilrechtlichen Klageweg die Verhinderung von Kartellrechtsverstößen auf eine weitere wirksame Säule, nämlich die der privaten Schadensdurchsetzung (des private enforcement) zu stellen und für Geschädigte europaweit ein vergleichbares Schutzniveau herzustellen. Das Instrument der dezentralen Kartellrechtsdurchsetzung durch Privatklagen nimmt in anderen Rechtskreisen, namentlich den USA, schon lange eine herausragende Bedeutung ein. Dies wird insbesondere durch den – in Europa nicht verfolgten – US-Ansatz der punitive oder treble damages getragen, der dem Geschädigten den dreifachen Schadensersatz einräumt, was häufig durch class actions (Sammelklagen) durchgesetzt wird.
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Die Europäische Schadensersatzrechtsrichtlinie92 ist in Deutschland mit der 9. GWB-Novelle am 9.6.2017 umgesetzt worden.93 Kläger profitierten in sog. nachgelagerten oder follow-on-Schadensersatzklagen bereits vor dieser Umsetzung davon, dass die Gerichte an die rechtskräftige Feststellung des Kartellrechtsverstoßes durch eine Behörde oder ein (anderes) Gericht gebunden sind und die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes deshalb im Schadensersatzprozess keine Rolle mehr spielt. Zudem gibt es mittlerweile für nach dem 26.12.2016 entstehende Schadensansprüche mit § 33a Abs. 2 GWB eine gesetzlich geregelte widerlegliche Schadensvermutung für Preiskartelle, Quotenkartelle, gebietsbezogene Marktaufteilungen oder andere wettbewerbsschädigende Maßnahmen. Kartellanten, die gegen sie gerichtete Schadensersatzansprüche abwehren wollen, müssen für diese Ansprüche nunmehr darlegen, dass die von ihnen getroffene Absprachen nicht zu einem Schaden geführt haben, also einen Vollbeweis des Gegenteils gemäß § 292 ZPO erbringen.
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Ebenfalls gesetzlich erheblich erleichtert ist für Ansprüche, die nach dem 26.12.2016 entstanden sind, die Geltendmachung von Schadensersatz durch mittelbar Geschädigte, die sich auf eine gesetzliche Vermutung der Schadensabwälzung gemäß § 33c GWB berufen können. Die Gesetzesreform hat zudem Ermittlungserleichterungen für potenzielle Kläger mit sich gebracht. So können Geschädigte nach § 33g GWB die Herausgabe von Unterlagen und Erteilung von Auskünften seitens der Kartellanten verlangen, die zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erforderlich sind.
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Nach deutschem Recht haften Kartellanten gegenüber den Geschädigten als Gesamtschuldner. Dies bedeutet konkret, dass ein Geschädigter seinen gesamten Schaden gegenüber einem Kartellanten geltend machen könnte, ohne dass er zu diesem Unternehmen überhaupt in einer Vertragsbeziehung gestanden haben muss. Kronzeugen haften für Ansprüche nach dem 26.12.2016 nur gegenüber ihren eigenen direkten und indirekten Abnehmern und sind auch beim entsprechenden Gesamtschuldnerinnenausgleich gegenüber anderen Kartellanten privilegiert.
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Durch die Entscheidung des EuGH in Sachen Otis wurde die Aktivlegitimation für kartellrechtliche Schadensersatzansprüche deutlich erweitert: Der Gerichtshof hat entschieden, dass auch diejenigen von den Beteiligten eines Kartells Schadenersatz verlangen können, die nicht unmittelbar in die Wertschöpfungs- oder Lieferkette des kartellbefangenen Produktes eingebunden sind.94 Der EuGH hatte bereits kurz vor diesem Urteil die Passivlegitimation für eine Kartellschadensersatzklage klargestellt: Danach haften für einen Kartellrechtsverstoß alle Gesellschaften eines einzelnen Rechtsträgers, die eine wirtschaftliche Einheit bilden, soweit ihnen, z.B. aufgrund einer 100 %-Beteiligung, eine Verantwortlichkeit für den Verstoß angelastet werden kann.95 Dies bedeutet praktisch, dass für den Verstoß eines Konzernunternehmens in jedem Fall die kontrollierende Muttergesellschaft in Anspruch genommen werden kann. Die Haftung von Schwestergesellschaften wird dagegen von der wohl h.M. verneint.96
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Für die Geschäftsführer von geschädigten Unternehmen gehört die Prüfung der Möglichkeit von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverfahren zu ihrer Treuepflicht gegenüber ihrem eigenen Unternehmen.97
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Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Durchsetzung von kartellrechtlichen Folge-Schadensersatzansprüchen nicht zwingend vor Gericht ausgetragen wird. Viele Unternehmen einigen sich außergerichtlich.98 Dies gilt vor allem für Unternehmen, die mit potenziellen Klägern in langjährigen Liefer- oder Abnahmebeziehungen stecken. Die im Rahmen von außergerichtlichen Streitbeilegungsvereinbarungen erzielten Ausgleichssummen fallen in ihrer Höhe nicht minder substanziell aus.
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Unternehmen, die wegen eines Kronzeugenantrags volle oder teilweise Bußgeldfreiheit erlangt haben, haben vor der Umsetzung der 9. GWB-Novelle das uneingeschränkte Risiko getragen, zu gleichrangigen Beklagten im Rahmen nachgelagerter Schadensersatzforderungen zu werden. Da die erfolgreiche Rolle des Kronzeugen die Einräumung des kartellrechtswidrigen Sachverhaltes voraussetzt, hat sich die für einen Kronzeugenantrag erforderliche Kooperation damit später durchaus als nachteilig bei der Verteidigung gegen