Verfassungsprozessrecht. Michael Sachs

Verfassungsprozessrecht - Michael Sachs


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Entscheidung durch Kammern des BVerfG, die inzwischen auch bei Richtervorlagen vorgesehen ist,

       die Ergänzungen im Hinblick auf die Zuständigkeiten nach dem Untersuchungsausschussgesetz,

       die Regelung des Kompetenzfreigabe-Ersetzungsverfahrens

       sowie zuletzt die Einführung der wahlrechtlichen Nichtanerkennungsbeschwerde und der Verzögerungsbeschwerde.

      IV. Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit

      21Die Existenz einer funktionierenden Verfassungsgerichtsbarkeit ist für die Verfassung eines Gemeinwesens in der Praxis von nicht hoch genug einzuschätzender Bedeutung. Denn eine solche Verfassungsgerichtsbarkeit kann die Beachtung der Verfassung in verschiedenen, zentral bedeutsamen Zusammenhängen sicherstellen.

      22Dies gilt zum einen für den Bereich klassischer Verfassungsstreitigkeiten, die sich im Bundesstaat zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen den Ländern sowie allgemein zwischen den Verfassungsorganen ergeben können. Eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit schafft hier die Möglichkeit, politische Machtkonflikte zwischen den maßgeblichen Faktoren des Verfassungslebens einer rechtlichen Lösung zuzuführen, während andernfalls unter Umständen mit der gewaltsamen Durchsetzung einer Seite gerechnet werden müsste.

      23Daneben hat in einem weitestgehend durchnormierten Rechtsstaat die Aufgabe der Normenkontrolle an Bedeutung noch gewonnen, durch die der Vorrang der Verfassung vor sonstigen Rechtsnormen sowie der Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht durchgesetzt wird.

      24Eine weitere traditionelle Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt im Bereich des rechtlich geordneten Verfassungsschutzes, wo die Verfassungsgerichte in |8|bestimmten, zum Schutze der Verfassung eingerichteten Verbots- und Anklageverfahren zu entscheiden haben.

      25Die gegenwärtig in der Praxis dominierende Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht schließlich darin, das Individuum mit seinen Grundrechten allgemein gegenüber Zwängen der Staatsgewalt verfassungsrechtlich zu schützen, was insbesondere durch das Instrument der Verfassungsbeschwerde geschieht. Durch die Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit anhand verfassungsrechtlicher Maßstäbe erlangt das BVerfG dabei großen Einfluss auf die Rechtsanwendung in fast allen Bereichen der Rechtsordnung. Um nicht zum Superrevisionsgericht für alle Zweige der Gerichtsbarkeit zu werden, betont das BVerfG allerdings die Beschränkung seiner Aufgaben auf die Wahrung gerade des Verfassungsrechts und die Subsidiarität gegenüber der sonstigen Rechtsprechung (→ Rn. 227 allgemein; Rn. 366, 372, 383, 393 zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG; Rn. 568f., 584ff. zur Grundrechtsverfassungsbeschwerde; Rn. 623, 627 zur kommunalen Verfassungsbeschwerde).

      26Die Fülle der vorstehend nur angedeuteten Aufgaben des BVerfG verschafft ihm im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung eine so herausragend wichtige Bedeutung, dass das BVerfG trotz seiner Stellung als nur zur Rechtsanwendung berufenes Gericht einer der wichtigsten Akteure des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens und damit ein Verfassungsorgan ist.

       Fragen zu A. Einführung:

      1 Nennen Sie die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Organisation des BVerfG!

      2 In welchen Normen ist die Zuständigkeit des BVerfG geregelt? Gibt es eine Generalklausel für seine Zuständigkeit?

      3 Durch welche Entscheidungsträger wurden verfassungsrechtliche Fragen in Deutschland in früheren verfassungsgeschichtlichen Epochen entschieden?

      4 Welches sind die wichtigsten Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit?

      Die Lösungen finden Sie auf S. 193.

      Literaturhinweise: Meinel, Florian/Kram, Benjamin, Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand historischer Forschung, JZ 2014, 913; Collings, Justin, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court 1951–2001, 2015; von Ooyen, Robert/Möllers, Martin (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015.

      |9|B. Gerichtsverfassung

      I. Grundgesetzliche Anforderungen

      27Die Gerichtsverfassung, d.h. der Aufbau und die Organisation des BVerfG, ist im Grundgesetz nicht abschließend geregelt. Es enthält nur einige diesbezügliche Grundsätze, deren Ausführung im Einzelnen es dem Bundesgesetzgeber überlässt (auch → Rn. 2f.). Als für diese Gesetzgebung verbindliche verfassungsrechtliche Vorgaben sind insbesondere die folgenden zu erwähnen:

       Art. 92 GG schreibt im Zusammenhang seiner beiden Halbsätze vor, dass das BVerfG mit Richtern besetzt sein muss, weil seine Tätigkeit zu der den Richtern anvertrauten rechtsprechenden Gewalt zählt.

       Art. 94 Abs. 1 Satz 1 GG schreibt vor, dass dem Gericht Bundesrichter und andere Mitglieder angehören sollen; nachdem sämtliche Mitglieder des BVerfG nach Art. 92 GG Richter zu sein haben, ist dies dahingehend zu verstehen, dass ein Teil der Mitglieder dieses Organs schon zum Zeitpunkt der Bestellung zu den Bundesrichtern, d.h. den Richtern an den anderen Bundesgerichten (Art. 95, 96 GG), gehört haben muss.

       Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG legt zum einen fest, dass die Mitglieder des BVerfG durch Wahl bestellt werden müssen; zum anderen wird für die Wahl im Sinne der bundesstaatlichen Parität bei der Besetzung dieses Organs vorgeschrieben, dass der Bundestag und der Bundesrat (als Mitwirkungsorgan der Länder) je die Hälfte der Mitglieder des BVerfG zu wählen haben.

       Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG enthält eine Vorschrift über die sog. Inkompatibilität (Unvereinbarkeit) der Stellung als Mitglied des BVerfG mit anderen Funktionen; namentlich dürfen die Mitglieder des BVerfG weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes (also insbesondere: dem Landesparlament bzw. der Landesregierung) angehören.

      28Im Übrigen erteilt Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG dem Bundesgesetzgeber den ausdrücklichen Auftrag, insbesondere die Verfassung des BVerfG zu regeln.

      |10|II. Gesetzliche Ausformung der Gerichtsverfassung

      1. BVerfG als Ganzes

      29Das BVerfG als Ganzes wird in seiner verfassungsrechtlich vorgezeichneten Rechtsstellung in § 1 Abs. 1 BVerfGG als ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes beschrieben. Das Gesetz bestätigt damit die aufgrund der verfassungsrechtlichen Befugnisse anzunehmende Qualität des BVerfG als Verfassungsorgan und unterstreicht zugleich seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die dem gerade wegen seiner weitreichenden Kompetenzen hier besonders bedeutsamen Grundsatz der Gewaltenteilung Rechnung trägt. § 1 Abs. 2 BVerfGG, der Karlsruhe zum Sitz des BVerfG bestimmt, kann im Sinne einer auch räumlichen Bekräftigung dieser Selbständigkeit verstanden werden. § 1 Abs. 3 BVerfGG erkennt nachträglich die Geschäftsordnungsautonomie an, die das BVerfG schon vorher aufgrund seiner Stellung als Verfassungsorgan in Anspruch genommen hatte (auch → Rn. 8).

      2. Zwei Senate

      30Nach § 2 Abs. 1 BVerfGG besteht das BVerfG aus zwei Senaten. Wegen dieser Aufgliederung wird es gelegentlich auch als „Zwillingsgericht“ bezeichnet. Die Untergliederung in zwei Senate erlaubt es, die Arbeitsbelastung des Gerichts auf mehrere Schultern zu verteilen, ohne die Zahl der Richter in einem einzelnen Spruchkörper untunlich zu erhöhen. Andererseits begründet die Aufteilung in zwei Senate die Notwendigkeit, Aufgaben und Tätigkeit der beiden Senate zu koordinieren.

      31In erster Linie geschieht dies durch die Aufteilung der Zuständigkeiten auf die beiden Senate, die in § 14 BVerfGG eine detaillierte, gleichwohl noch nicht abschließende Regelung gefunden hat. Dabei ist die grundsätzliche Aufgabenteilung in der Weise vorgenommen, dass der Erste Senat über Grundrechtsfragen entscheidet,


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