Verfassungsprozessrecht. Michael Sachs
ist in der Wirklichkeit undurchführbar geworden, weil vor allem durch die sehr hohe Zahl von Verfassungsbeschwerden die grundrechtsbezogenen Verfahren eine weitaus größere Arbeitsbelastung für das Gericht bedeuten als die zum Staatsorganisationsrecht. Diesem Umstand trägt § 14 Abs. 4 BVerfGG dadurch Rechnung, dass das Plenum des BVerfG (→ Rn. 40ff.) ermächtigt wird, die Zuständigkeit der Senate abweichend von den gesetzlichen Grundsätzen zu regeln, wenn dies infolge einer nicht nur vorübergehenden Überlastung eines Senats unabweislich ist. Von dieser Ermächtigung ist seit langem in der Weise Gebrauch gemacht worden, dass dem Zweiten Senat bestimmte Teile der Aufgaben des Ersten Senats übertragen worden sind. Die jedenfalls heute doch recht komplizierte Aufgabenverteilung bringt Abgrenzungsprobleme mit sich, für die § 14 Abs. 5 BVerfGG Vorsorge trifft. Danach entscheidet, wenn zweifelhaft ist, welcher Senat für ein Verfahren zuständig ist, darüber ein besonderer, aus beiden Senaten paritätisch besetzter Ausschuss. Für |11|den Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Senaten über Rechtsfragen ist die Entscheidung durch das Plenum vorgesehen (→ Rn. 41ff.).
32Die beiden Senate sind die Spruchkörper, die – mit wenigen Ausnahmen – alle dem BVerfG übertragenen Entscheidungen zu treffen haben. Sie sind damit die zentral bedeutsamen Untergliederungen des Gerichts. Die Zusammensetzung der Senate ist in § 2 Abs. 2 und 3 BVerfGG geregelt. Danach besteht jeder Senat aus acht Richtern, von denen jeweils drei aus der Zahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 Abs. 1 GG) gewählt sein müssen. Um die anteilige Berücksichtigung des spezifisch richterlichen Elements, das den Art. 94 Abs. 1 Satz 1 GG ausformt, auch der Sache nach gegen denkbare Umgehungen zu sichern, sieht § 2 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG vor, dass diese Richter wenigstens drei Jahre an einem obersten Gerichtshof des Bundes tätig gewesen sein sollen.
33Den Vorsitz führen in ihrem jeweiligen Senat der Präsident des BVerfG und der Vizepräsident (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie werden in dieser Funktion von dem dienstältesten bzw. lebensältesten Richter des Senats vertreten.
34Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann ein Senat Beschlüsse nur fassen, wenn mindestens sechs Richter anwesend sind. Bei fehlender Beschlussfähigkeit werden in Verfahren von besonderer Dringlichkeit so viele Richter des anderen Senats durch das Los als Vertreter bestimmt, dass die Beschlussfähigkeit erreicht wird.
35Entscheidungen des Senats werden nach § 15 Abs. 4 Satz 2 BVerfGG grundsätzlich mit der Mehrheit der an der Entscheidung mitwirkenden Mitglieder des Senats getroffen. Von dieser Grundregel formuliert das Gesetz zwei Ausnahmen. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG können in den strafprozessähnlichen Verfahren gemäß § 13 Nr. 1, 2, 4 und 9 BVerfGG dem Antragsgegner nachteilige Entscheidungen nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der acht Mitglieder des Senats, d.h. von mindestens sechs Senatsmitgliedern, getroffen werden.
Beispiel: Aus diesem Grunde ist die Einstellung des Parteiverbotsverfahrens gegen die NPD durch den Zweiten Senat im Jahr 2003 mit den Stimmen von nur drei seiner Mitglieder gegenüber vier gegenteiligen Voten erfolgt (BVerfGE 107, 339 [356ff.]).
36Als weitere Ausnahme von der Mehrheitsregel sieht § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG vor, dass bei Stimmengleichheit im Senat ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht festgestellt werden kann, und zwar unabhängig davon, ob der Antrag auf die Feststellung eines solchen Verstoßes oder auf seine Verneinung gerichtet war. Für Entscheidungen mit abweichendem Inhalt bleibt es demgegenüber bei der grundsätzlichen Mehrheitsregel, so dass in diesen Fällen bei Stimmengleichheit der jeweils gestellte Antrag abgelehnt ist. Mangels klar ausgerichteter Anträge hilft dies allerdings in einigen Verfahren nicht weiter (→ Rn. 270); insoweit bleibt die Lösung problematisch.
37Eine besondere Rolle für die praktische Arbeit der Senate spielen die im Gesetz nur in einzelnen Zusammenhängen (§ 15a Abs. 2, § 23 Abs. 2, 3, § 97c Abs. 2, § 97d Abs. 1 BVerfGG) erwähnten Berichterstatter. Dabei handelt es sich um Richter, die für das jeweilige Verfahren in besonderer Weise verantwortlich sind; ihnen obliegt insbesondere die allgemeine Förderung des Verfahrens (§ 22 Abs. 3 GOBVerfG) |12|und die Vorlage eines schriftlichen Votums für die vom Senat zu treffende Entscheidung (§ 23 GOBVerfG).
3. Kammern
38Für die Erledigung der zahlreichen Vorlagebeschlüsse nach § 80 BVerfGG und vor allem der Verfassungsbeschwerden berufen die Senate jeweils für die Dauer eines Geschäftsjahres mehrere Kammern, die aus je drei Richtern bestehen und in ihrer Zusammensetzung nicht länger als drei Jahre unverändert bleiben (§ 15a Abs. 1 BVerfGG). Die Kammern entscheiden im Rahmen ihrer Befugnisse in den Verfahren, die einem ihrer Mitglieder als Berichterstatter zugeteilt sind (§ 40 Abs. 1 Satz 1 GOBVerfG) – ein Zusammenhang, der in § 15a Abs. 2 BVerfGG nur angedeutet ist.
4. Beschwerdekammer
39Zur Entscheidung über die 2011 eingeführte Verzögerungsbeschwerde (→ Rn. 630) ist nach § 97c Abs. 1 BVerfGG die Beschwerdekammer berufen, in die das Plenum zwei Richter aus jedem Senat für eine Regelamtszeit von zwei Jahren beruft.
5. Plenum
40Von den weiteren Gliederungen des BVerfG ist vor allem das Plenum von Bedeutung, in dem alle Richter des BVerfG zusammenwirken. Das Plenum ist im BVerfGG nur im Zusammenhang mit einzelnen Zuständigkeiten angesprochen; einige nähere Bestimmungen treffen die §§ 1–3 GOBVerfG. Abgesehen von der schon erwähnten Regelung der Geschäftsverteilung gemäß § 14 Abs. 4 BVerfGG (→ Rn. 31) sind dem Plenum die Entscheidungen übertragen, die das BVerfG im Zusammenhang mit der Versetzung eines dienstunfähigen Richters des BVerfG in den Ruhestand oder mit seiner Entlassung zu treffen hat (vgl. § 105 BVerfGG).
41Eine für den Inhalt der Judikatur des BVerfG zentrale, wenngleich in der Praxis selten relevant gewordene Entscheidungskompetenz des Plenums ergibt sich aus § 16 Abs. 1 BVerfGG. Diese Bestimmung dient dem Zweck, Divergenzen zwischen der Judikatur der beiden Senate des „Zwillingsgerichts“ zu vermeiden, positiv ausgedrückt, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des BVerfG zu sichern. Dieses den Vorbildern anderer Prozessordnungen entsprechende Zwischenverfahren, das in §§ 48f. GOBVerfG näher ausgestaltet ist, ist dann durchzuführen, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will. Die fragliche Rechtsauffassung muss für die Entscheidungen beider Senate von tragender Bedeutung sein bzw. gewesen sein (auch → Rn. 497f.); Unterschiedlichkeiten der Rechtsprechung, die sich nur in obiter dicta, d.h. in beiläufigen Bemerkungen der Entscheidungen, finden, bleiben unberücksichtigt. Ob die Voraussetzungen für eine Vorlage gegeben sind, entscheidet allein der jeweils vorlagepflichtige Senat.
|13|Hinweis: Den Versuch des Zweiten Senats, in einem spektakulären Fall („Kind als Schaden“) den Ersten Senat zu einer Vorlage zu veranlassen (BVerfGE 96, 409ff.), hat dieser dementsprechend zurückgewiesen (BVerfGE 96, 375 [403ff.]).
42Das Plenarverfahren unterbleibt, wenn der Senat, von dessen Rechtsauffassung der andere Senat abweichen will, auf Anfrage erklärt, dass er an seiner Rechtsauffassung nicht festhält (§ 48 Abs. 2 GOBVerfG). Nach der Entscheidung des Plenums hat der Senat, der das Plenum angerufen hat, bei der Entscheidung in seinem Ausgangsverfahren die Rechtsauffassung des Plenums zu Grunde zu legen; eine erneute Anrufung des Plenums wegen derselben Rechtsfrage in späteren Verfahren ist nicht ausgeschlossen (zur vergleichbaren Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG → Rn. 501).
43Die wenigen einschlägigen Verfahren betrafen die Frage, wie politische Parteien vor dem BVerfG die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status geltend zu machen haben (BVerfGE 4, 27), die Auslegung des (zwischenzeitlich aufgehobenen) § 554b Abs. 1 ZPO (BVerfGE 54, 277), die Bedeutung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei überbesetzten Spruchkörpern (BVerfGE 95, 322), das Fehlen fachgerichtlicher Abhilfemöglichkeiten bei Verletzungen des rechtlichen Gehörs (BVerfGE 107, 395) und Kompetenzfragen im Zusammenhang mit dem Streitkräfteeinsatz im Inland (BVerfGE 132, 1ff.). Ferner ist hinzuweisen auf die bereits erwähnte unterbliebene Vorlage des Ersten Senats der Frage, ob