Verfassungsprozessrecht. Michael Sachs

Verfassungsprozessrecht - Michael Sachs


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Antragsteller liegt, durch Rücknahme ihres Antrags das Verfahren zu beenden, hält sich das BVerfG die Möglichkeit offen, im Hinblick auf die berührten öffentlichen Interessen seine Verfahren trotz Rücknahme von Anträgen fortzuführen und mit einer Entscheidung abzuschließen.

      Beispiel: Um Rechtsklarheit für die Allgemeinheit zu schaffen, hat BVerfGE 98, 218 (242f.) über die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Rechtschreibreform entschieden, obwohl sie – nach Durchführung der mündlichen Verhandlung – zurückgenommen worden war.

      3. Untersuchungsgrundsatz

      79Im Hinblick auf die Beschaffung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen ist der Verfassungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz (auch: Inquisitionsmaxime) beherrscht, der in § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG seinen Ausdruck gefunden hat. In der Praxis des BVerfG stehen freilich Fragen der Beweisaufnahme eher selten im Mittelpunkt. Dies erklärt sich zum Teil daraus, dass die Problematik vieler Verfahren weitgehend auf reine Verfassungsrechtsfragen konzentriert ist. Namentlich gilt dies für die Verfassungsbeschwerde, bei der nach Feststellung eines relevanten Rechtsanwendungsfehlers die Möglichkeit besteht, die Streitsache an die Gerichte zurückzuverweisen, so dass dort auch unterbliebene Beweiserhebungen stattfinden können. Was die im verfassungsgerichtlichen Verfahren häufig bedeutsame Beurteilung größerer gesellschaftlicher Entwicklungen angeht, kann sich das BVerfG vielfach auf die im Verfahren von den Beteiligten abgegebenen Erklärungen oder sonst eingeholten Stellungnahmen stützen. Gerade in neuerer Zeit hat das Gericht aber auch in derartigen Fällen sogar in der mündlichen Verhandlung ausführlich durch Anhörung von Sachverständigen selbst Beweis erhoben.

      |23|Beispiele: Dies war der Fall etwa im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gegen das Altenpflegegesetz, BVerfGE 106, 62 (104), oder auch im Verfahren zum Kopftuch bei Lehrerinnen, BVerfGE 108, 282 (304ff., aber S. 293: sachverständige Auskunftspersonen). Zuletzt hat das BVerfG in demselben Rahmen auf sachkundige Dritte gem. § 27a BVerfGG (auch → Rn. 80), Vertreter von Organisationen (BVerfGE 135, 259 Rn. 84), aber auch Einzelpersonen (BVerfGE 135, 259 Rn. 28: „als sachverständige Auskunftspersonen“) zurückgegriffen.

      80Für den Fall einer Beweisaufnahme stehen dem BVerfG nach den §§ 26ff. BVerfGG als Beweismittel sowohl Urkunden als auch Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen zur Verfügung. Über die gesetzlich ausdrücklich genannten Möglichkeiten hinaus kann das BVerfG grundsätzlich auch andere Beweismittel einsetzen, etwa Beweis durch Augenschein erheben oder eine Parteivernehmung durchführen. In § 27a BVerfGG neu eingefügt ist die Möglichkeit, sachkundigen Dritten (zumal einschlägig tätigen Verbänden, vgl. BVerfGE 136, 194 Rn. 78; 137, 108 Rn. 45; auch → Rn. 79) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Beweisaufnahme findet in der mündlichen Verhandlung oder in gesonderten Beweisterminen statt. Die Beteiligten können der Beweisaufnahme in jedem Falle beiwohnen und dabei Zeugen und Sachverständige befragen, vgl. § 29 BVerfGG. In seiner Beweiswürdigung ist das BVerfG frei, vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

      81Nicht gesetzlich gelöst ist das Problem der objektiven Beweislast. Diese betrifft die Frage, wie im Falle der objektiven Nichterweislichkeit einer entscheidungserheblichen Tatsache zu entscheiden ist. Insoweit ist es problematisch, allgemeine Beweislastregeln aus anderen Gerichtsbarkeiten zu übernehmen. Dies gilt namentlich im Verhältnis zur Zivilgerichtsbarkeit, deren Normenmaterial ganz anders als das Verfassungsrecht vielfach von vornherein auf Probleme der Nichtfeststellbarkeit von Tatsachen zugeschnitten ist. Im Rahmen von Verfassungsbeschwerdeverfahren spricht einiges für die Anerkennung des Prinzips „in dubio pro libertate“, das dem Grundsatz der größtmöglichen Effektivität der Grundrechtsgeltung entsprechen dürfte. Seine Geltung kann aber keinesfalls als allgemein gesichert angesehen werden.

      VI. Entscheidungen

      82Das BVerfG trifft seine Entscheidungen nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in geheimer Beratung. Dabei wird nicht nur über das abschließende Ergebnis, sondern zuvor über alle aufgeworfenen Rechtsfragen regelmäßig nacheinander abgestimmt, vgl. § 27 Abs. 2 GOBVerfG. Für die Reihenfolge der Abstimmung der einzelnen Richter gilt über § 17 BVerfGG die Regelung des § 197 GVG, wonach grds. die (dienst-)jüngeren Richter vor den (dienst-)älteren abstimmen, zuletzt der Vorsitzende. Zur Beschlussfähigkeit s. bereits → Rn. 34. Zu den Mehrheitserfordernissen s. § 15 Abs. 4 BVerfGG und → Rn. 36.

      83Die Entscheidungen des BVerfG aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen nach § 25 Abs. 2 BVerfGG als Urteil, andernfalls als Beschluss. Die unterschiedliche Bezeichnung der Entscheidungen hat in diesen Fällen keine weitergehende |24|Bedeutung. Entscheidungen nach § 25 Abs. 2 BVerfGG sind nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG schriftlich abzufassen, zu begründen und von den mitwirkenden Richtern zu unterzeichnen; Urteile sind zudem nach § 30 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG öffentlich zu verkünden. Entscheidungen über einzelne prozessuale Fragen im Rahmen eines Verfahrens ergehen stets als Beschluss. Auch die Kammern (→ Rn. 38) entscheiden immer durch Beschluss (§ 81a Satz 1, § 93d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG), also (in Umkehrung des § 25 Abs. 2 BVerfGG wohl) auch immer ohne mündliche Verhandlung (dafür aber nur für bestimmte Entscheidungen ausdrücklich § 93d Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), also auch im Rahmen von § 93d Abs. 2 i.V.m. § 32 BVerfGG.

      84In der Praxis äußerst selten sind die in § 25 Abs. 3 BVerfGG für zulässig erklärten Sonderformen von Entscheidungen. Dabei betreffen Teilentscheidungen Endentscheidungen über Teile des Verfahrensgegenstandes, während Zwischenentscheidungen sich auf einzelne prozessuale Fragen beziehen. Praktisch wichtiger sind die einstimmigen Verwerfungsbeschlüsse nach § 24 BVerfGG (sog. „a-limine-Abweisung“).

      85Bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen ergehen nach § 25 Abs. 4 BVerfGG mit der Verkündungsformel: „Im Namen des Volkes“. Auch im Übrigen entspricht ihre Gliederung ohne ausdrückliche diesbezügliche Regelung dem Aufbau der Entscheidungen anderer Gerichte. Nach der zitierten Verkündungsformel folgt das so genannte Rubrum, in dem die Beteiligten des Verfahrens, der Verfahrensgegenstand, die mitwirkenden Richter und der Zeitpunkt der Entscheidung mitgeteilt werden.

      86Von zentraler Bedeutung jedenfalls für das konkrete Verfahren ist der so genannte Tenor oder Entscheidungsausspruch, der über den gestellten Antrag befindet. Dabei wird der erfolglose Antrag in je nach Verfahrensart unterschiedlichen Formulierungen bei Unzulässigkeit verworfen (oder es wird die Unzulässigkeit festgestellt), bei Unbegründetheit abgewiesen, zurückgewiesen oder auch abgelehnt; hat der Antrag Erfolg, wird er nach den insoweit für die einzelnen Verfahrensarten bestehenden Bestimmungen positiv beschieden.

      87Auch die Begründung der Entscheidungen folgt in ihrem Aufbau grundsätzlich dem aus anderen Prozessarten bekannten Vorbild. Sie beginnt mit dem Tatbestand, in dem die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung, die Anträge und das dazugehörige Vorbringen der Beteiligten sowie der Ablauf des Verfahrens dargestellt werden. Dem folgen die für das Ergebnis der Entscheidung maßgeblichen rechtlichen Überlegungen.

      88Eine Besonderheit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen besteht darin, dass jeder Richter die Möglichkeit hat, seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung (also: zu ihrem Ergebnis) oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederzulegen, das der Entscheidung anzuschließen ist, § 30 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Auch können die Senate in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen (§ 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Von beiden Möglichkeiten wird nicht nur vereinzelt Gebrauch gemacht.

      |25|VII. Kosten

      89Das Verfahren des BVerfG ist in allen Verfahrensarten (gerichts)kostenfrei, § 34 Abs. 1 BVerfGG. Doch kann nach Absatz 2 in den Verfahren der Verfassungs- und Wahlprüfungsbeschwerden sowie allgemein bei Anträgen auf Erlass einstweiliger Anordnungen eine Missbrauchsgebühr von bis zu 2600 Euro auferlegt werden, und zwar den Beschwerdeführern bzw. Antragstellern, aber auch ihren Verfahrensbevollmächtigten. Ein Missbrauch wird angenommen,


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