Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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      Aus heutiger Sicht ist die positive Schule angreifbar. Methodisch ist sie unzulänglich: Zu kleine Untersuchungseinheiten, kaum Vergleichsgruppen, Beschränkung auf Extremgruppen von Straftätern. Ihre Rolle in der nationalsozialistischen Rassen- und Sippenforschung ließ eine Art Berührungsangst gegenüber biologischen Kriminalitätserklärungen aufkommen. Freilich erlebt derzeit der Versuch, das Verbrechen auf die menschliche Natur zurückzuführen, eine neue Blüte (→ § 7 Rn 16 ff.; § 8).91

      „Das Verbrechen ist […] wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andererseits.“92

      26 Die von verschiedenartigen Ursachen der Kriminalität ausgehende, also: multikausale Kriminalitätserklärung (→ § 10 Rn 12 ff.) kommt verbreiteten Vorstellungen entgegen, wie sie in einem gemäßigten kriminalpolitischen Klima, das der Prävention Vorrang vor der Repression einräumt, eine gute Sozialpolitik als die beste Kriminalpolitik versteht und die Besserung des Rechtsbrechers zur vordringlichen Aufgabe des Strafrechts erklärt, vorherrschen. Mit seiner Marburger Antrittsvorlesung 1882 („Marburger Programm“93) beeinflusst von Liszt dieses Klima maßgeblich und stellt damit die Weichen für das spezialpräventive Behandlungsstrafrecht.

      [44]27

      Die Vermählung von wissenschaftlicher Kriminalitätsursachenforschung mit staatlicher Kriminalitätsbekämpfung, welche die moderne Kriminologie kennzeichnet, vollendet sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Generation der Schüler von Lacassagne und Lombroso. Die Schülergeneration entstammt verschiedenen Nationen und Berufsgruppen. Sie setzt sich aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Soziologen und zunehmend Juristen zusammen. Sie ist nicht auf eine bestimmte Bezugswissenschaft fixiert, sondern eher an der kriminalpolitischen Nutzbarmachung des breiten Spektrums bezugswissenschaftlicher Problemzugänge.

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      Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Einwanderer sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.

      29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die so genannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 12), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.

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      Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 25 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 23 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte[45] pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 28 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.

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      Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagebezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageeinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden persönlichkeitsbezogene Kriminalitätserklärungen entwickelt (→ § 8), die sich auf die wiederholte Begehung schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten konzentrieren und teils „antisoziales“ Verhalten mit einer „psychopathischen“ Persönlichkeit in Zusammenhang bringen oder, im Sinne des Mehrfaktorenansatzes (→ § 4 Rn 24 ff.; § 10 Rn 12 ff.), ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren annehmen.

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      In der Mitte des 20. Jahrhunderts interessiert sich die nordamerikanische Kriminologie in einem vorwiegend theoretischen Diskurs für die Prozesse, welche die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität bestimmen (→ § 2 Rn 4). Der labeling approach rückt den Kriminalisierungsprozess und seine Agenten ins Blickfeld (→ § 13 Rn 6 ff.). Seit den 1980er Jahren gewinnen, unter dem gesellschaftspolitischen Vorzeichen des Neoliberalismus, spätmoderne Theorien an Einfluss, die eine soziale Geprägtheit von Kriminalität bestreiten und sich wieder unverblümt den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens


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