Kriminologie. Tobias Singelnstein
7 Theorien sind gedankliche Operationen zur Erfassung der Wirklichkeit über den wahrgenommenen Einzelfall hinaus. Sie machen Aussagen über die Struktur der Welt, in der wir leben. Sie stellen den Versuch dar, unsere Wahrnehmungen zu ordnen, Erwartungssysteme zu stabilisieren und eine Kontrolle über die Umwelt zu erlangen. Theorien vereinfachen die Komplexität der Wirklichkeit so weit, dass ein Verständnis von Wirkungszusammenhängen möglich wird. Eine wissenschaftliche Theorie will eine Optimierung zwischen Abstraktion und Konkretisierung finden: Sie will einerseits durch Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit deren Begreifbarkeit, Kommunizierbarkeit und systematische Überprüfbarkeit ermöglichen. Andererseits will sie die Wirklichkeit in ihrer Komplexität so weit erhellen, dass die jeweils interessierende Fragestellung möglichst reich an Eindrücken „wirklichkeitsverankert“ und „wirklichkeitsgesättigt“ beantwortet werden kann. Während Theorien, die sich quantitativer Verfahren bedienen, starkes Gewicht auf die Reduktion[56] der Komplexität von Wirklichkeit legen, sind Theorien, welche qualitative Verfahren benutzen (→ § 2 Rn 11 ff.; § 5 Rn 2 ff.), um eine möglichst gegenstandsadäquate Wahrnehmung der Wirklichkeit bemüht.
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Der erste Versuch einer Synthese verschiedener theoretischer Zugangswege zur Kriminalität erfolgte durch den Vereinigungsgedanken von Liszts. Kennzeichnend dafür war das Bemühen, den Anlage-Umwelt-Streit in einem pragmatischen Sowohl-als-auch aufzulösen (→ § 4 Rn 24 ff.), das keiner bestimmten theoretischen Vorstellung verpflichtet war, sondern sich allein von dem praktischen Anliegen leiten ließ, aus der Erkenntnis der Ursachen des Verbrechens Ratschläge für seine Verhütung und die Besserung von Kriminellen zu entwickeln. Unabhängig von jenem historischen Beispiel sind Zweifel anzumelden, ob es überhaupt möglich ist, verschiedene theoretische Zugangswege zur Kriminalität ohne die Entwicklung eines diese Theorien überspannenden gemeinsamen theoretischen Dachs („Metatheorie“) zu bündeln. Dieses Problem wird uns bei der heutigen Version des Vereinigungsgedankens, dem multifaktoriellen Ansatz (→ § 10 Rn 12 ff.), noch beschäftigen.
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Vorerst sei Skepsis angedeutet: Die Vorstellung eines kriminologischen Gemischtwarenladens, der seine Regale gemäß der Nachfrage der Verbraucher in Kriminaljustiz und -politik kundenfreundlich einrichtet und darauf „Erkenntnisse“ beliebiger theoretischer Herkunft stapelt, entspricht dem Verwertungszusammenhang der Bedarfsforschung (→ § 1 Rn 9), entbehrt jedoch des von uns als unabdingbar angesehenen theoretischen Zugangs. Infolgedessen kann jeder Verbraucher in Kriminaljustiz und -politik sich nach seinen unüberprüften und zumeist unbewussten alltagstheoretischen Vorstellungen bedienen. Der Gemischtwarenladen ist unwillentlich und unkontrolliert mit der Summe der alltagstheoretischen Vorstellungen derer befrachtet, die „Erkenntnisse“ aus ihm beziehen.
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Die Annahme, es gebe viele verschiedenartige Kriminalitätsursachen, lässt offen, worin diese konkret bestehen und in welchem Ausmaß sie jeweils für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich sind. Um den Vereinigungsgedanken in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne formulieren zu können, müsste man die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Entstehung von Kriminalität kennen und wissen, welchen Anteil sie jeweils besitzen. Sogar der als solcher theoretisch anspruchslose Vereinigungsgedanke ist auf theoriegeleitete Annahmen angewiesen, weil eine zureichende Kriminalitätserklärung nicht ohne die zumindest implizite und heuristische Festlegung auf bestimmte theoretische Prämissen auskommt. Auch das induktive Sammeln von vermeintlich mit Kriminalität zusammenhängenden Fakten beruht auf theoretischen Vorentscheidungen, durch welche die Faktenauswahl eingegrenzt und strukturiert wird. Der Verzicht auf eine bewusste theoretische Orientierung bewirkt keine Theorieabstinenz, sondern bloß die ungeprüfte Übernahme spekulativer Alltagstheorien.
[57]11 Diese Einsicht hat im 20. Jahrhundert zur Ausbildung verschiedener Kriminalitätstheorien geführt, die – jede in sich schlüssig – aus einer jeweiligen bezugswissenschaftlichen Perspektive (→ § 1 Rn 4) eine bestimmte Wahrnehmung von Kriminalität vermitteln – und damit jeweils in ihrer Aussagekraft begrenzt bleiben. Die meisten aktuellen Theorien studieren Kriminalität als eine besondere Form menschlichen Verhaltens und nehmen an, dieses Verhalten sei mit einer empirisch belegbaren Wahrscheinlichkeit von vorgegebenen Umständen der Biologie oder der Psyche des Individuums oder von dessen sozialer Umgebung abhängig. Die Annahme einer solchen Abhängigkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsbeziehung charakterisiert die Theorien als deterministisch (→ § 3 Rn 18, § 4 Rn 13 f.). Durch die Prüfung und Bestätigung dieser Wahrscheinlichkeitsdetermination in Erfahrungstests wird das kriminelle Verhalten aus seiner Abhängigkeit von den es beeinflussenden Faktoren erklärt. Diese Erklärung ist ätiologisch (Ätiologie = Ursachenforschung), insofern sie Ursachen der Kriminalitätsentstehung und -verbreitung benennt.
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Erklären (→ § 2 Rn 8 f.) meint, beobachtete Regelmäßigkeiten von Ereignissen und die kausalen Beziehungen zwischen ihnen einer Theorie zuzuordnen. So könnte die Beobachtung, dass heute in X-land trotz gleicher Einwohnerzahl mehr Straftaten registriert werden als vor 10 Jahren, mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Bei der Erklärung wird zunächst eine Aussage („Registrierte Kriminalität hängt mit gemeldeter Arbeitslosigkeit zusammen“) aufgestellt, die einen solchen Zusammenhang behauptet und empirisch überprüfbar ist (durch Vergleich der Registrierungen von Kriminalität und der Arbeitslosigkeit heute mit den Daten von vor zehn Jahren). Diese Aussage wird als Hypothese bezeichnet. Die Hypothese formuliert eine Beziehung (Grund-Folge-Relation) zwischen dem Effekt Kriminalität und den diesen Effekt mutmaßlich bedingenden davon unabhängig existierenden Faktoren. Die bedingenden Faktoren werden unabhängige Variablen, der dadurch bewirkte Effekt abhängige Variable genannt. Dann wird mit empirischen Forschungsmethoden überprüft, ob die Hypothese mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmt.117
„Warum platzte über Nacht der Kühler meines Autos? Der Tank war bis an den Rand mit Wasser voll; der Deckel war fest verschlossen; es war kein Anti-Frost-Mittel eingefüllt worden; der Wagen stand im Hof; die Temperatur sank während der Nacht wider Erwarten auf einige Grade unter Null. Dies waren die Antecedensdaten. In Verbindung mit den Gesetzen der Physik – insbesondere dem Gesetz, dass sich das Volumen von Wasser ausdehnt, wenn es gefriert – erklären sie, dass der Kühler geplatzt ist. Mit der Kenntnis der Antecedensdaten [58] und der Gesetze hätten wir das Ereignis mit Sicherheit voraussagen können. Dies ist in der Tat ein gutes Beispiel für eine Erklärung.“118
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Die erklärende retrospektive Annahme, das erhöhte Kriminalitätsvorkommen stehe mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit in Zusammenhang, lässt sich zwanglos in die prospektive prognostische Aussage umkehren, dass bei weiter steigender Arbeitslosigkeit vermutlich auch die Kriminalität weiter zunehmen werde. Daraus wird die praktische Bedeutung kriminalätiologischer Aussagen deutlich: Eine zureichende Ursachenerklärung gibt die Grundlage für eine Kriminalitätsprognose (→ § 10 Rn 15 ff.) und damit für ein Kriminalitätsvorbeugungsprogramm ab.
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Doch Vorsicht! Wir sollten uns an die vom Kritischen Rationalismus bezeichneten Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Realitätserfassung (→ § 3 Rn 13 ff.) und an die insoweit beschränkte Verwertbarkeit von am Erklärungsmodell orientierten empirischen „Sozialdaten“ (→ § 3 Rn 18) für die praktische Kriminalpolitik erinnern, um diesen Gedanken nicht zu überzeichnen. Empirische Belege für theoretische Annahmen über das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens