Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge.

      Nützliche Websites: http://www.geneticsandsociety.org/article.php?id=4713.

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      Biologische Erklärungen besitzen gemeinsame Funktionen: Sie verbinden biologische mit sozialer Abweichung, markieren schwer überwindbare Grenzen zwischen Normalität und sozialer Abweichung, stehen in einem besonderen Näheverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung, reproduzieren und legitimieren deren Praxis der Exklusion von Schwer- und Karrierekriminellen und rechtfertigen die Selektivität der Strafverfolgung durch Abgrenzung der „Unverbesserlichen“ von Gelegenheitstätern.122

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      Heute ist nur ein Teil der Erklärungen anlagebezogen; andere Erklärungen stützen sich auf biochemische Einflüsse der Umwelt, die durch die Nahrung, die Luft, durch Unfälle oder Krankheiten die Psyche in kriminogener Weise verändern können sollen.123 Die uns heute skurril anmutende Erkennbarkeit der Verbrecherpersönlichkeit [65] an leicht erkennbaren äußerlichen Merkmalen wird nicht mehr vertreten. Vor allem nicht evidente, nur noch der Fachperson durch aufwendige wissenschaftliche Prozeduren erkennbare, zumeist genetische, Merkmale werden in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht.

      „Keiner muss ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können’s. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen – sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss.“124

      [66]5

      Dies bedeutet einen Schritt hin zu einer integrativen Betrachtung der Täterpersönlichkeit (→ § 10 Rn 12 ff.), die mit einem Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet. Dem Anliegen der spätmodernen Kontrollgesellschaft entsprechend (→ §§ 21, 22, 24) richtet sich das Interesse weniger auf den Einzelnen und seine Disziplinierung als auf die (möglichst frühe) Prävention.127

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      Wegbereiter biokriminologischer Studien, die auch mit Umwelteinflüssen rechnen, ist die Zwillingsforschung. Sie stellt den Versuch dar, mit Hilfe eines naturgegebenen Experiments den verhaltensbestimmenden Einfluss der (Erb-)Anlage vom Einfluss der Umwelt zu isolieren und die jeweilige Stärke dieser Einflüsse zu prüfen.

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      Die Zwillingsforschung macht sich den Umstand zunutze, dass eineiige Zwillinge das gleiche Erbgut aufweisen, zweieiige Zwillinge dagegen – wie Geschwister im Übrigen – erbverschieden sind. Durch Verhaltensvergleiche von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen und sonstigen Geschwistern soll der Anlageneinfluss bei relativ konstant gehaltenen Umweltbedingungen erhoben werden. Eine gehäufte Verhaltensübereinstimmung bei erbgleichen Personen wird als Beleg für die Bedeutung der Anlagen gewertet.

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      Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich dahin zusammenfassen, dass zwar ein gewisser empirischer Zusammenhang zwischen vererbten Eigenschaften und Kriminalität zu bestehen scheint, dieser Zusammenhang freilich eher schwach ausgeprägt ist und desto schwächer ausfällt, je aktueller die Studien und je größer die untersuchten Fallzahlen sind sowie je anspruchsvoller das methodische Design der Untersuchung ist.128

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      Der Beweis, dass kriminelles Verhalten durch die Anlage disponiert wird, lässt sich mit Zwillingsstudien nicht führen. Eineiige Zwillinge verhalten sich womöglich häufiger übereinstimmend, weil sie mehr aneinanderhängen, mehr Zeit miteinander verbringen, öfter Freunde und Hobbys teilen als andere Geschwister. Sie werden vielleicht eher gemeinsam straffällig, weil sie häufiger sonstige gemeinsame Lebensgewohnheiten aufweisen. Vielleicht werden sie auch nur häufiger gemeinsam erwischt, weil sie als „doppelte Lottchen“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder bei Ermittlungen, die sich gegen einen eineiigen Zwilling richten, der [67]Verdacht einer Beteiligung seines Zwillings näherliegt als bei sonstigen Geschwistern. Dafür spricht eine weitere Studie, die Straftaten nicht nach amtlichen Registern, sondern nach anonymem Selbstberichten erhob, aus denen sich keine erhöhte kriminelle Verhaltensübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen ergab.129

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      Bei der Adoptionsforschung werden Anlage- und Umwelteinfluss durch Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Adoptivkindern mit derjenigen ihrer leiblichen Eltern einerseits und ihrer Adoptiveltern andererseits erhoben. Die Verhaltenskonkordanz bei biologischer Verwandtschaft wird als Indiz für genetische Disposition zur Kriminalität, die Konkordanz in der Adoptivbeziehung als Hinweis auf sozialen Einfluss gewertet.

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      Auch Adoptionsstudien fallen nicht eindeutig zugunsten vererbter Einflüsse aus. So erbrachte eine breitere und verfeinerte Replikationsstudie deutlich schwächere Indizien für biologische Einflüsse als die ursprüngliche Studie.130 In einer neueren Metaanalyse wurde für den Einfluss von Erbfaktoren lediglich eine mittlere Effektstärke von 0.11 nachgewiesen.131 Demnach gilt auch bei Adoptionsstudien: Je aktueller, je statistisch aussagekräftiger und je methodisch ausgefeilter die Untersuchung, desto stärker nivellieren sich angenommene vererbte Effekte.

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      Wo die Ergebnisse der Adoptionsforschung genetische Effekte zu belegen scheinen, sind die Befunde auch anders verstehbar. Eltern, die ihre Kinder zur Adoption weggeben, sind häufig psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt, die mit Kriminalität einhergehen. Bei den Kindern kann das Adoptionsverhältnis eine erhöhte kriminelle Gefährdung bewirken. Die oft als Trauma erlebte Adoption erschwert die soziale Eingliederung. Adoptionen geht nicht selten ein für die kindliche Entwicklung schädlicher Heimaufenthalt voraus.

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      In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie des überführten Täters eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.

      [68]14

      Neuere Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.132 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.133 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.134 Amerikanische


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