Kriminologie. Tobias Singelnstein
gemeinte Schlagzeilen und Buchtitel. Der dem zu Grunde liegende Reduktionismus, wonach alle Manifestationen unseres Geistes ausschließlich eine Konsequenz der Aktivität physiologischer Prozesse im Gehirn seien, beruht auf einer unzutreffenden Überinterpretation empirischer Befunde. In eigentümlicher Verdrehung wird dabei das Gehirn zum Subjekt erklärt, das den [72]Menschen als ausführendes Werkzeug benutzt, die neuronalen Prozesse zur Quelle von Gedanken. Nur durch diese Redeweise wird der Eindruck eines die Eigenheit des Mentalen verdrängenden biologischen Determinismus erweckt.148 Was die Hirnforschung als neuronale Prozesse benennt, sind im Alltagsverständnis schlicht unsere Gedanken, und die vermeintliche Subjektstellung des Gehirns schrumpft in diesem Verständnis zu der Annahme, dass wir davon zumeist unbewusst und unwillentlich Gebrauch machen. Die Annahme, dass „das“ (nicht etwa unser!) Gehirn unser Verhalten steuert149, lässt sich schwerlich dahin erweitern, dass das Gehirn seine neuronalen Prozesse selbst neuronal steuert. Also muss der eigentlich bekämpfte Freiheitsgedanke wieder erweckt und nun dem Gehirn zugeschrieben werden, das als autonomes Subjekt nicht anders kann als „seine Freiheit“150 wahrzunehmen.
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In ähnlicher Weise wie bei der Hypostasierung des Gehirns als steuerndes Subjekt wird bei der Antwort auf die klassische kriminalitätstheoretische Frage nach den Ursachen des Verbrechens die in genetischen und neurobiologischen Strukturen und Funktionen ausgedrückte menschliche Natur zur Produktionsstätte des gewalttätigen kriminellen Verhaltens stilisiert.151 Der Kriminelle mag durch seine veranlagten Triebe gesteuert sein – aber was sind seine Triebe anderes als er selbst?
IV. Gemeinsame Probleme und Defizite
Lektüreempfehlung: Strasser, Peter (2005): Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. 2. Aufl., Frankfurt a. M., 127-154, 229-245.
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Die Biokriminologie beschränkt ihr Augenmerk auf Kriminalität, die mit Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung zu tun hat. Sie wählt den zu untersuchenden Personenkreis zumeist aus der Gefängnispopulation oder aus biologisch auffälligen Menschen, die aggressiv wurden. Die Untersuchungseinheiten sind klein, die Untersuchungen meist retrospektiv, Vergleichsgruppen werden kaum herangezogen.
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Jeder Entwicklungsschub der Humanbiologie scheint die alte Frage nach dem „geborenen Verbrecher“ aufs Neue zu beleben. Nicht wissenschaftliche Indizien, sondern die schauerliche Faszination der Vorstellung, dass es Menschen mit „bösen“ Genen oder Hirnen gibt, ist die Antriebsquelle der Biokriminologie. Offenbar assoziiert der Alltagsverstand unbegründete Gewaltausbrüche, die durch Erziehung und [73]Behandlung nicht gezügelt werden konnten, hartnäckig mit einer abartigen biologischen Veranlagung. Die Biokriminologie „bedient“ dieses Vorurteil mit ihrem aktuellen wissenschaftlichen Repertoire und erhält dafür im Gegenzug eine ansonsten in der Kriminologie kaum erzielbare Öffentlichkeitswirkung.
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Im Gegensatz zur beeindruckenden technologischen Entwicklung der Biowissenschaften ist der Diskurs um ihre kriminologischen Erträge bemerkenswert zurückgeblieben, ja fast auf der Position Lombrosos erstarrt. Auch die neuen biowissenschaftlichen Deutungen der Kriminalität leiden darunter,
■ die Menschheit nach einer binären Logik in Kategorien von Gute und Schlechte, Normkonforme und Abweichler zu scheiden,
■ einen Determinismus zu behaupten, der den Menschen und seine Handlungen als Objekt biologischer Steuerung versteht,
■ einen Diskurs zu führen, der Indizien für biologische Einflüsse dazu verwendet, Abweichung zu pathologisieren und dadurch die soziale Verteidigung naturwissenschaftlich zu legitimieren,
■ das Böse im Innern bestimmter Menschen zu lokalisieren, sie in dieser scheinbar unabänderlichen Eigenschaft zu definieren und eine lebenslange Persistenz der Neigung zu asozialem Verhalten zu unterstellen,
■ den mangelnden Erfolg therapeutischer Interventionen dem Individuum zuschreibend als Unbehandelbarkeit zu deuten,
■ auf Behandlungsangebote, welche Autonomie und Würde des Einzelnen respektierten, zu verzichten, um stattdessen einem Programm zur Unterdrückung von Charaktermängeln zu folgen,
■ im Übrigen auf Maßnahmen der Neutralisierung von menschlichen Risikoträgern zu setzen, die vom medikamentösen Ruhigstellen über die Sicherungsverwahrung bis zu dereinstigen eugenischen Neuzüchtungen der humanen Biomasse im „Menschenpark“152 reichen.
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Der geläufigste Einwand gegen biologische Verbrechenserklärungen beanstandet die allzu kurzschlüssige Verbindung zwischen biologischen Eigenschaften und kriminellem Verhalten, bei welcher der vermittelnde Einfluss des sozialen Umfeldes außer Betracht bleibt. Zwar werden Befunde der Biokriminologie nicht durch Belege für zusätzlich bestehende soziale Einflussfaktoren der Kriminalitätsentstehung entkräftet, da biologische Einflüsse durchaus neben und hinter sozialen Einflüssen bestehen mögen (→ § 7 Rn 3 ff.). Indessen gewinnt die Kriminalität immer erst [74] durch das Bindemittel Umwelt eine erfahrbare und wissenschaftlich zugängliche Form.
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Auch ausgeprägte statistische Zusammenhänge belegen mitunter nicht wirklich biologische Einflüsse. So ist in den USA die registrierte Kriminalität der afroamerikanischen Bevölkerung, und erst recht deren Inhaftierungsrate, um ein Mehrfaches höher als es eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend zu erwarten wäre. Die Erklärung dessen mit einem durchschnittlich deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten von Afroamerikanern im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt153 hat eine heftige Kritik entfacht154. Diese anrüchig simple Annahme dürfte nur durch das Zusammenspiel zweier Umstände Beachtung gefunden haben: Zum einen haben naheliegende soziale Deutungen, wonach die afroamerikanische Bevölkerung in Ausbildung, Einkommen, Wohnqualität und Ansehen benachteiligt ist und zudem einem überwiegend weißen Strafverfolgungsapparat mit entsprechenden strukturellen Problemen (Stichwort racial profiling) begegnet, an Überzeugungskraft verloren, weil die Bereitschaft zu breit angelegten – und entsprechend kostspieligen! – Programmen der affirmativen Stützung geschwunden ist. Zum anderen hat die geringe Beeinflussbarkeit dieses Befundes durch einen überproportional auf Afroamerikaner gerichteten abschreckungsorientierten Strafvollzug die Vorstellung genährt, dass die Verhaltensstabilität biologische Ursachen haben müsse. Bei geschwundener Bereitschaft zur sozialpolitischen Beförderung von Chancengleichheit drängt sich die biologische Erklärung geradezu auf, wenn Abschreckung durch Strafvollzug als unrealistisch eingeschätzt wird.
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Vollends triftig wird die Kritik an der Biokriminologie, wenn sie die gesellschaftliche Prägung der Kriminalität nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhaltensursache, sondern auf die Gesellschaft als Aushandlungsinstanz der Inhalte von Kriminalität bezieht. Kriminalität und Gewalt lassen sich nicht biologisch bestimmen, weil diese Begriffe erst mit Blick auf gesellschaftliche Reaktionen definierbar sind, sich in gesellschaftlichen Aushandlungen des Normalen und des Normabweichenden herausbilden und dem Wandel sozialer Anschauungen des Gewünschten und Geächteten unterliegen (→ § 13 Rn 8 ff.).
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Die Kriminalität auf biologische Zusammenhänge zu reduzieren bedeutet, das Phänomen des Rechtsbruchs aus seinem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext zu lösen. Kriminalität ist nicht ohne ihren von einem gesellschaftlich bestimmten Normalitätsmaßstab abweichenden Charakter definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Insofern handelt es sich bei kriminellen Rechtsbrüchen nicht um objekthaft und nichtkommunizierend vorhandene Gegebenheiten [75](→ § 2 Rn 11 ff.), deren Charakteristika durch Zusammenhänge mit natürlich „sinnlos“ vorhandenen biologischen Befundtatsachen bestimmbar wären. Die biokriminologische Sicht entbehrt der gebotenen Gegenstandsadäquanz ihres methodischen Erklärungsrahmens für ein gesellschaftlich überformtes und nur mit Blick auf seine gesellschaftliche