Kriminologie. Tobias Singelnstein
Diagnostische Kriterien für Störung des Sozialverhaltens
A. Es liegt ein repetitives und anhaltendes Verhaltensmuster vor, durch das die grundlegenden Rechte anderer oder wichtige altersentsprechende gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden. Dies manifestiert[84] sich im Auftreten von mindestens drei der folgenden 15 Kriterien aus einer der nachfolgenden Kategorien während der letzten zwölf Monate, wobei mindestens ein Kriterium in den letzten sechs Monaten aufgetreten sein muss:
Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren
1. Schikaniert, bedroht oder schüchtert andere häufig ein.
2. Beginnt häufig Schlägereien.
3. Hat Waffen benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen können (z. B. Schlagstock, Ziegelstein, zerbrochene Flasche, Messer, Schusswaffe).
4. War körperlich grausam zu Menschen.
5. Quälte Tiere.
6. Hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (z. B. Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall).
7. Hat jemanden zu sexuellen Handlungen gezwungen.
Zerstörung von Eigentum
8. Hat vorsätzlich Brandstiftung begangen mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen.
9. Hat vorsätzlich fremdes Eigentum zerstört (jedoch nicht durch Brandstiftung).
Betrug oder Diebstahl
10. Ist in eine fremde Wohnung, ein fremdes Gebäude oder Auto eingebrochen.
11. Lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d. h. er „legt andere herein“).
12. Hat Gegenstände von erheblichem Wert ohne direkten Kontakt mit dem Opfer gestohlen (z. B. Ladendiebstahl, jedoch ohne Einbruch, sowie Fälschungen).
Schwere Regelverstöße
13. Bleibt schon vor dem Alter von 13 Jahren trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg.
14. Ist mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weggelaufen, während er/sie noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte oder kam einmal erst nach einem längeren Zeitraum zurück.
15. Schwänzt schon vor dem Alter von 13 Jahren häufig die Schule.
[85]B. Die Verhaltensstörung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
C. Bei Personen, die 18 Jahre oder älter sind, sind nicht die Kriterien einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllt.
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Die Kategorien der „anti-“ bzw. „dissozialen“ oder „im Sozialverhalten“ gestörten Persönlichkeiten ergeben sich nicht aus einer induktiven Beobachtung mit psychiatrischem Sachverstand. Da diese Persönlichkeitskategorien jenseits eines rein medizinisch bestimmbaren Krankheitsbildes durch Merkmale der sozial nicht tolerierten Abweichung von dem Spektrum der „normalen“ Persönlichkeit gekennzeichnet sind, bedarf ihre Bestimmung der Angabe, welches Spektrum von Persönlichkeitseigenschaften als erwünscht und normal gilt. Persönlichkeitsstörungen können nur definiert und identifiziert werden, indem ein in der betreffenden Persönlichkeit nicht vorhandener, externer Normalitätsmaßstab auf sie angewandt wird. Die Normalität beruht auf einer konventionellen Festlegung, die nicht objektiv oder universell sein kann. Der Normalitätsmaßstab entspricht dem, was die maßgeblichen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft als normal empfinden. Ist anhand eines Normalitätsmaßstabes eine Störung definiert, so lassen sich anschließend die Symptome dieser Störung bei bestimmten Individuen beobachten und beschreiben. Hier – und erst hier! – ist psychiatrischer Sachverstand verlangt.
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Die kriminologische Relevanz der verschiedenen Konzepte von sozial nicht tolerierten antisozialen Persönlichkeitsstörungen ergibt sich aus zwei empirisch geprüften Beobachtungen. Zum einen scheinen Individuen mit solchen Persönlichkeitsstörungen in der Population der inhaftierten Verurteilten häufiger vorzukommen als in der Normalbevölkerung. Zum anderen bleibt offenbar die Bereitschaft zur Begehung von Gewalt- und Sexualdelikten in der biografischen Entwicklung einer Person relativ stabil erhalten. Abgesehen von der auf den Alterungsprozess des Organismus zurückzuführenden generellen Aktivitätsabnahme im vorgerückten Lebensalter bleibt die Disposition zur Begehung solcher Delikte offenbar auch nach längerem Zeitablauf bestehen und kann namentlich weder durch Veränderung der Lebensumstände noch durch Sanktionierungserfahrungen entscheidend beeinflusst werden. Nimmt man diese Befunde beim Wort und versteht sie nicht bloß als Artefakte einer auf Persönlichkeitsauffälligkeiten von Kriminellen fokussierten Wahrnehmung, so erbringen sie eindrückliche Belege für die Persönlichkeitsabhängigkeit von Delinquenz – und diskreditieren sowohl den klassischen Standpunkt, dass[86] kriminelles Verhalten eine Konsequenz freier Wahl des Individuums sei, wie die soziologische Sichtweise, die Kriminalität auf gesellschaftliche Einflüsse zurückführt.
2. Diagnose in der Praxis
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Freilich ist die Grundlage für eine Diagnose der antisozialen Persönlichkeit alles andere als gefestigt. Angesichts der Methodenvielfalt werden unterschiedliche Diagnoseschlüssel nebeneinander eingesetzt. Von den konkurrierenden Methoden der Diagnosestellung werden neuerdings bevorzugt jene verwandt, deren Kategorien möglichst klare Symptombeschreibungen enthalten, die statistisch geprüft sind und die sich auf eine breite, möglichst internationale Akzeptanz unter Forschenden stützen können. Die diagnostischen Kategorien beruhen auf Merkmalskombinationen, deren Vorhandensein bei einem Individuum auf eine psychische Störung schließen lässt. Dabei ist keine eindeutige Identifikation des Individuums möglich. Vielmehr besteht die Diagnose in der analogischen Wiedererkennung genereller Symptombeschreibungen bei einem Individuum, wobei die Symptome nur als Indizien für eine psychische Störung zu verstehen sind und ihre jeweilige graduelle Ausprägung ein Beurteilungsermessen belässt.
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Die Konzepte der antisozialen Persönlichkeitsstörungen sind keine beschreibende, um differenzierende Wahrnehmung bemühte Begriffe, sondern zu Kontrollzwecken dienende zuschreibende Definitionen: Wer die Merkmale erfüllt, bedarf der sorgsamen Überwachung und der Neutralisierung seines Gefährdungspotentials. Das die Erkenntnis überlagernde Kontrollbedürfnis ist stets im Spiel, wenn es um die Beobachtung psychischer Auffälligkeit geht.
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Der Stabilität der Persönlichkeitsprägung entsprechend bleibt der Hang zu „antisozialem“ Verhalten vom Wandel der Lebensumstände unberührt im Lebensverlauf erhalten, bis infolge des Alterns des Organismus ein Abbau der Triebkräfte einsetzt. Dem gemäß ist die Diagnose der antisozialen Persönlichkeitsstörung bei verurteilten Straftätern gleichbedeutend mit der Annahme des Drohens weiterer schwerer Straftaten, die eine Sicherung der Allgemeinheit durch langandauernde Inhaftierung verlangt. Die Verlässlichkeit dieser Diagnose ist umstritten.177
25 Weil die Folgen der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeit für den Betreffenden in außerordentlichen und langandauernden Freiheitsbeschränkungen bestehen, bedarf nicht bloß die Diagnose im Einzelfall einer sorgfältigen kritischen Überprüfung, sondern mehr noch deren konzeptionelle Grundlage einer relativierenden Beurteilung. Auch die vergleichsweise ausgefeilten und erprobten Klassifizierungen [87] von ICD-10 und DSM-5 verwenden eine nicht stets eindeutige Begrifflichkeit der diagnostischen Merkmale. Deren graduell unterschiedliche Ausprägungsstärke und ihre Kumulierbarkeit belassen Interpretationsspielräume, die je nach Vorverständnis der diagnostizierenden Person zu divergierenden Beurteilungen führen können. Besonders bei DSM-5 entstammen die Merkmale dem kulturellen Kontext der Mittelschicht und tragen Situationen sozialer Benachteiligung nicht Rechnung.
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Vielfach beziehen sich die Merkmalsbeschreibungen auf sozial bewertete Sachverhalte, die als regelwidrig und störend gelten. Dabei besteht die Gefahr eines empirisch gehaltlosen