Kriminologie. Tobias Singelnstein
wird. Bei einer „antisozialen“ Persönlichkeitsstörung, die zu repetierendem, zumeist gewalttätigem kriminellen Verhalten disponiert, ist die Gefahr tautologischer Argumentation gerade wegen der Plausibilität des Zusammenhanges von Gewalttätigkeit und gestörter Persönlichkeit besonders groß. Wilhelm Busch (1832-1908) parodierend, ist man versucht zu sagen:
„Es findet keine Überraschung statt, so man es schon erwartet hat.“
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Eine zirkuläre Beweisführung bei der Anwendung des Konzepts der antisozialen Persönlichkeitsstörung liegt besonders nahe, wenn die Persönlichkeitsstörung mit der Fähigkeit zur manipulatorischen Täuschung über die Sozialgefährlichkeit in Zusammenhang gebracht wird.178
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Oft ist die Vertretbarkeit universaler und konsistenter Eigenschaften von delinquenten Persönlichkeiten fraglich. Individuelle Dispositionen bestehen gleichermaßen zur Verhaltenskonstanz wie zur Verhaltensflexibilität. Die auf allgemeine Wesenszüge der Persönlichkeit bezogene Kriminalitätserklärung dürfte den komplexen Wechselwirkungen von Person und Situation nicht ausreichend Rechnung tragen. Geht man davon aus, dass Eigenschaften von Personen durch soziale Interaktion gebildet und verfestigt werden, so sind Beschreibungen von Täterpersönlichkeiten das Ergebnis der sozialen Aushandlung von Kriminalität durch rückblickend „stimmige“ Deutung des Kriminalitätsereignisses im Hinblick auf einen Autor mit dazu „passenden“ Eigenschaften. Effekte der Stigmatisierung und der Prisonisierung können zu Veränderungen des Ichbildes im Sinne der Übernahme einer Deviantenrolle führen („sich selbst erfüllende Prophezeiung“, → § 13 Rn 10). Soweit Persönlichkeitsunterschiede zwischen sozial Unauffälligen und später Verurteilten bereits vor der offiziellen Registrierung von Kriminalität vorgefunden wurden, lassen sich [88] diese mit vorgängigen Interaktionen erklären, in denen soziale Auffälligkeiten bestimmt werden, die ihrerseits die spätere offizielle Registrierung, den Verlauf der Strafverfolgung und die Sanktionierung beeinflussen.179
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Wer in der Strafrechtspflege tätig ist, wird unschwer bei der typischen Klientel der wiederholt rückfälligen Sexual- und Gewaltstraftäter die beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale wiederfinden. Die Übereinstimmung persönlichkeitstheoretischer Befunde mit forensischer Alltagserfahrung bedeutet jedoch keine Bestätigung auf Plausibilitätsniveau. Die Berufserfahrung der Strafrichter und Staatsanwälte bezieht sich nicht auf einen Menschenschlag, der zu Straftaten disponiert ist, sondern auf Personen, die gewöhnlich wiederholt und wegen bestimmter gravierender Delikte vor Gericht stehen. Über die Vielzahl der Personen, die unerkannt Straftaten verüben, weiß die Justiz nichts. Auch ist der Blick vom Richterstuhl höchst selektiv. Der angeklagte Wirtschaftskriminelle erscheint als ein „Mann ohne Eigenschaften“, bei dem die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Persönlichkeit und Delikt fernliegt. Man erinnert sich nur derer, die regelmäßig vor Gericht erscheinen, mehr noch: deren Rückkehr auf die Bank des Angeklagten absehbar ist. Für die Annahme, dass „es so kommen musste“, bietet sich die Erklärung einer durch die Persönlichkeit des Angeklagten disponierten Verhaltenskonstanz zwanglos an. Diese Annahme ist bequem, weil sie von desozialisierenden Einflüssen vorangegangener Sanktionierungen absieht und damit die Strafjustiz von Verantwortung entlastet. Doch sind bequeme Antworten nicht immer überzeugend.
30 Die Verhaltenskontinuität von angeklagten Straftätern ist nicht befremdlich. Wir alle sind in Routinen befangen, haben ein Bedürfnis nach Stabilität unserer Lebensweise und Schwierigkeiten, die einmal erworbene soziale Rolle abzustreifen. Da der „Rückfall“ im sozialen Verhalten typisch ist, ist seine persönlichkeitsbezogene Erklärungsbedürftigkeit nur und gerade im Bereich devianten Sozialverhaltens schwer einzusehen. Dies gilt umso mehr, als die Rückfallkriminalität nicht ausschließlich durch eine kriminelle Verhaltenskonstanz des Individuums bedingt ist. Der Rückfall wird für die Strafjustiz erst wahrnehmbar durch das Zusammenspiel zwischen Kontinuität des beurteilten rechtswidrigen Verhaltens und Kontinuität der institutionellen Reaktion auf die Rechtsverletzung. Der Beharrlichkeit des Rechtsbrechers folgt eine beharrliche Reaktion, die förmlich die Rückfälligkeit feststellt und diskreditiert. Mit rückfallbeeinflussenden Faktoren ist demnach nicht nur auf der individuellen Verhaltensebene des Straffälligen, sondern auch auf der Ebene des Kontrollverhaltens zu rechnen. Schon von Liszt veranlasst das Studium der Reichskriminalstatistik zu der Aussage:
„Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er [89] wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen.“ […] Denn unter den Ursachen des Rückfalls „nehmen die Fehler unseres Strafgesetzbuchs, unserer Strafrechtspflege, unseres Strafvollzugs weitaus die erste Stelle ein.“180
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Für eine Prognosestellung werden neuerdings empirisch validierte Kriterienlisten als Leitfaden eingesetzt. Dabei wird die prognostische Einzelfallbeurteilung anhand von Kriterienlisten vorgenommen, welche relevante Risikofaktoren benennen und gewichten.181 Solche Listen dienen zum einen als Arbeitsinstrument für die fachpsychiatrische Individualbeurteilung, zum anderen ermöglichen sie Laien, erstellte Prognosegutachten auf ihre Plausibilität zu überprüfen.182 In der Schweiz ist bei der Prüfung einer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug und der Gemeingefährlichkeit vor Gewährung von Vollzugslockerungen eine Kommission aus Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden sowie der Psychiatrie anzuhören (Art. 62d Abs. 2, 75a Abs. 1, 2 StGB [CH]), welche eine solche Kriterienliste verwendet und mit ihrem Vorschlag die von der Behörde zu treffende Entscheidung oft faktisch vorwegnimmt.183 Die in den Kriterienlisten aufgeführten Risikofaktoren beruhen stets auf retrospektiven Studien über die persönlichen und sozialen Zusammenhänge mit schwerer Rückfallkriminalität. Prospektiv wurden Prognosekriterien bislang noch nicht auf ihre Validität überprüft.184
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Zu den bekanntesten neueren Kriterienlisten zählt der in Kanada zur Prognose von Gewaltdelikten bei psychisch auffälligen oder persönlichkeitsgestörten Personen entwickelte HCR-20185. Mit diesem Prognoseinstrument werden 20 Kriterien geprüft, die sich auf die Vorgeschichte (Historical), das gegenwärtige Störungsbild (Clinical) sowie auf die künftig zu erwartenden äußeren Umstände (Risk) beziehen. In Deutschland wurde der HCR-20 von Norbert Nedopil (*1947) in eine erweiterte Liste von Risikovariablen (ILRV) integriert.186 Daneben ist der ebenfalls aus Kanada stammende SVR-20 zur Vorhersage sexueller Gewalttaten187 gebräuchlich.188 HCR-20 wie SVR-20 verwenden Kriterien des PCL-R (Psychopathy Checklist Revised), einem Instrument zur Ermittlung des klinischen Störungsbildes „psychopathy“, das sich nur unzulänglich ins Deutsche übersetzen lässt.
[90]Integrierte Liste von Risikovariablen nach Nedopil
A. Ausgangsdelikt
1. Statistische Rückfallwahrscheinlichkeit.
2. Bedeutung situativer Faktoren für das Delikt.
3. Einfluss einer vorübergehenden Krankheit.
4. Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung.
5. Erkennbarkeit motivationaler Zusammenhänge.
B. Anamnestische Daten (Vorgeschichte)
1. Frühere Gewaltanwendung.
2. Alter bei erster Gewalttat.
3. Stabilität von Partnerbeziehungen.
4. Stabilität in Arbeitsverhältnissen.
5. Alkohol- / Drogenmissbrauch.
6. Psychische Störung.
7. Frühe Anpassungsstörungen.
8. Persönlichkeitsstörung.
9. Frühere Verstöße gegen Bewährungsauflagen.
C. Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung (klinische Variablen)
1. Krankheitseinsicht und Therapiemotivation.
2. Selbstkritischer