Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht. Joachim Wolf
Der nicht auf förmliche Verwaltungsakte gegründete Bereich verwaltungsbehördlicher Tätigkeit ist materiellrechtlich gesetzlich gestaltet. Negatorische Abwehr- und positive Leistungsansprüche der Bürger können hier prozessual vor den Verwaltungsgerichten über die allgemeine Leistungsklage und über die Feststellungsklage durchgesetzt |9|werden. Die allgemeine Leistungsklage ist in der VwGO nicht explizit geregelt, aber vorausgesetzt (§§ 43 Abs. 2, 111, 113 Abs. 4 VwGO). Mit der subsidiären Feststellungsklage können streitige verwaltungsrechtliche Rechtsverhältnisse gerichtlich verbindlich geklärt werden.
§ 43 VwGO
(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).
Dieselben negatorisch-abwehrenden und leistungsmäßig fordernden materiellen Anspruchs- und prozessualen Rechtsschutzkonstellationen wie bei den verwaltungsgerichtlichen Klagearten gibt es auch außergerichtlich auf der behördlichen Ebene, soweit die Behörde rechtsförmlich durch Verwaltungsakt handelt. Anknüpfungspunkt ist dann die grundsätzlich nach einem Monat eintretende Bestandskraft der Verwaltungsaktregelung. Sie kann von betroffenen Bürgern im Wege des rechtzeitigen Widerspruchs bei der erlassenden Behörde hinausgeschoben oder beseitigt werden (Anordnung des Sofortvollzugs). Der individuelle Rechtsschutzeffekt einer aufschiebenden Wirkung liegt darin, dass der Verwaltungsakt zeitweise oder dauerhaft nicht vollstreckt werden kann.
V. Sog. Binnenrechtsstreitigkeiten
Staatsorganisationsrechtlich handelt es sich bei Binnenrechtsstreitigkeiten im Wesentlichen um
Organstreitigkeiten (zwischen verschiedenen Staatsorganen über ihre verfassungsmäßigen Rechte), oder
Bund-Länder-Streitigkeiten im föderalen System.
Verwaltungsrechtlich geht es bei sog. Binnenrechtsstreitigkeiten vornehmlich um an Rechtsaufsichtsmaßnahmen anknüpfende Streitigkeiten zwischen einer mit Selbstverwaltungskompetenzen ausgestatteten staatlichen Einrichtung (Kommunen, Körperschaften des öffentlichen Rechts) und den zur Rechtsaufsicht über sie berufenen übergeordneten staatlichen Stellen (in der Regel Regierungspräsidien und Regierungen der Länder).
|10|VI. Materielle und formelle Rechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen
Aus dem Umstand, dass der Staat nur durch rechtlich hergestellte Organisation entsteht und Bestand hat (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG) ergibt sich in Verbindung mit der verfassungsrechtlich durchgängigen Ermächtigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG) eine weitere Besonderheit für die öffentlichrechtliche Fallbearbeitung. Das ist die Unterscheidung von formeller und materieller Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns.
Vereinbarkeit des Erfolgs staatlichen Handelns mit der Verfassung und dem Gesetz (materielle Rechtmäßigkeit),
Vereinbarkeit staatlichen Handelns mit verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Zuständigkeits-, Form- und Verfahrensanforderungen (formelle Rechtmäßigkeit).
Es gibt im öffentlichen Recht eigene Regeln dafür, wann die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns
die strikte Einhaltung sämtlicher formeller und materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt. In diesem Fall führen schon formelle Fehler zur Qualifizierung des staatlichen Handelns als rechtswidrig, obwohl die Entscheidung der jeweiligen staatlichen Stellen im Ergebnis mit dem Gesetz im Einklang steht;
in erster Linie die Einhaltung materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt, während formelle Fehler zwar nicht irrelevant sind, aber geheilt werden können,
nur die Einhaltung materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt, während formelle Fehler für das auf die staatliche Tätigkeit insgesamt bezogene Rechtmäßigkeitsurteil irrelevant sind.
Die Frage, welche dieser Rechtmäßigkeitsstufen eingreift, muss grundsätzlich der Gesetzgeber beantworten.
VII. Arbeit am Sachverhalt und an den Rechtsfragen des Falles
Die meisten Klausuraufgaben enthalten wenig geordnete Grunddaten über die tatsächlichen Gegebenheiten, die Situation und die Ereignisse, die zu ihr geführt haben – also über die Sachlage, die den konkreten Streitfall ausmacht. Hinzu kommt, dass die am Ende der Aufgabenstellung formulierte(n) Rechtsfrage(n) – Was kann X gegen den Bescheid unternehmen? Hat die Klage des X Aussicht auf Erfolg? Ist das umstrittene Gesetz wirksam zustande gekommen? – in aller Regel zu allgemein sind, um einen schrittweise abarbeitungsfähigen Leitfaden für die schriftliche Fallösung zu liefern. Hierfür ist eine Strukturierung der Sachverhaltsgegebenheiten im Hinblick auf die zu beantwortenden Rechtsfragen des Falles erforderlich. Die Strukturierung des Falles besteht aus vier Arbeitsschritten. Sie gehören noch nicht zur Fallösung, sondern stellen Vorbereitungsschritte dar. Mit kurzen Notizen zu den Ergebnissen jedes dieser Arbeitsschritte ist der Weg für die abschließende schriftliche Ausarbeitung eröffnet.
|11|1. Tatsachenstoff des Falles (1. Stufe)
Der erste Arbeitsschritt besteht in der Zusammenstellung des Tatsachenstoffs, also aller zwischen den Beteiligten unstreitigen Daten, Ereignisse und Zusammenhänge des Falles, in die der nachfolgende rechtliche Streitstoff eingebettet ist. Zum Tatsachenstoff gehört auch die „Rechtsgeschichte“ des Falles. Das ist alles, was sich im Vorlauf der aktuell zu bearbeitenden rechtlichen Fragen zwischen den Beteiligten vor Gerichten oder in Form verwaltungsbehördlicher Entscheidungen abgespielt hat. Es empfiehlt sich, den Tatsachenstoff in Form von stichwortartigen Notizen festzuhalten. Damit ist eine Abgrenzungsgrundlage gegenüber den streitigen Rechtspositionen und Fallfragen geschaffen.
2. Parteivorbringen, Streitgegenstand (2. Stufe)
In einem zweiten Arbeitsschritt werden die streitigen Positionen jeder beteiligten Seite formuliert und einander gegenübergestellt, und zwar möglichst in den eigenen laienhaften Worten der Beteiligten, um den Blick für die wirklichen Anliegen der Streitbeteiligten frei zu halten (konkrete Streitpositionen). Maßstab für die Formulierung dieser Positionen ist das, was jede Seite für sich rechtlich erreichen will. Damit wird der maßgebliche Ansatz erarbeitet, um nachfolgend die einschlägigen Rechtsfragen zu bestimmen, die begutachtet werden sollen.
Zur Ermittlung der streitigen Standpunkte und des wirklichen rechtlichen Begehrens der Beteiligten sind ggf. Auslegungen der mitgeteilten Informationen über diese Standpunkte erforderlich. Das ist keine juristische Auslegungsarbeit, sondern eine Auslegungsarbeit, die sich auf den Sachverhalt bezieht. Sie ist typisch für die anwaltliche Beratungstätigkeit, die für den Anwalt damit beginnt, herauszufinden, was die Mandantin oder der Mandant wirklich will.
Hier liegt eine erste potentielle Fehlerquelle für die Fallbearbeitung. Ihr begegnen Bearbeiter am wirksamsten durch strikte Vermeidung juristischer Fachausdrücke und vorschnelle rechtliche Einordnungen des Falles nach Maßgabe von gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen. Der Streit ist – wiederum stichwortartig – so zu skizzieren, wie ihn die Parteien mit ihren eigenen Worten darstellen. Für die Auslegung dieser Darstellung ist auf die allgemeine Lebenserfahrung zurückzugreifen, soweit es um Privatpersonen im Streit mit dem Staat geht. Auch das staatliche Streitvorbringen sollte nicht mit juristischen Fachausdrücken beschrieben werden, sondern mit der psychologisch naheliegendsten Zielsetzung, die sich aus der jeweiligen staatsaufgabenmäßigen (amtlichen) Stellung der beteiligten staatlichen Stelle ergibt.
|12|Merke
Der Grund für die Zurückhaltung beim Umgang mit gesetzlichen Rechtsbegriffen und Systembegriffen liegt in der Gefahr, durch vorschnellen gedanklichen Rückgriff auf solche Allgemeinbegriffe mit ihren vielfältigen assoziativen Zuordnungsmöglichkeiten den eigentlichen konkreten Rechtsstreit zu verfehlen (häufiger Fehler). Die Vielfalt der Lebenswirklichkeit,