Strafrecht Allgemeiner Teil. Klaus Hoffmann-Holland
geprüft werden.
101Problematisch ist weiterhin die nahezu uferlose Weite der Äquivalenztheorie. Sie kann zu einem Rückgriff auf unendlich weit zurückliegende Ereignisse führen (regressus ad infinitum).[101] Wird etwa O von A erschossen, so sind neben A auch die Hersteller der Schusswaffe, die Eltern des A, die diesen gezeugt haben, und wiederum deren Eltern usw. für den Tod des O aufgrund der Gleichwertigkeit der Bedingungen nach der Äquivalenztheorie kausal. Hieraus folgt, dass die Conditio-sine-qua-non-Formel allenfalls die Mindestbedingungen der Zurechnung eines tatbestandlichen Erfolges klären kann.
b) Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung
102Eine Möglichkeit, der ausufernden Weite der Äquivalenztheorie zu begegnen, besteht darin, dass man bei der Feststellung der Kausalität von vornherein eine andere Kausalitätstheorie zugrunde legt. Diesen Ansatz verfolgen bspw. die Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung.[102] Diese geht zwar ebenso wie die Äquivalenztheorie von der Gleichwertigkeit aller Bedingungen aus. Statt aber im Sinne der Conditio-sine-qua-non-Formel zu prüfen, ob eine Handlung hinweggedacht werden kann, fragt sie, ob der eingetretene Erfolg mit der Handlung (durch eine Reihe von nachfolgenden Ereignissen) nach den bekannten Naturgesetzen notwendig verbunden war.[103]
103Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hat in der Literatur vielfachen Zuspruch erfahren. Ob sie tatsächlich geeignet ist, den gegen die Äquivalenztheorie erhobenen Einwand der Uferlosigkeit zu umgehen, muss jedoch bezweifelt werden. Denn auch auf ihrer Grundlage bleiben ganz entfernte Bedingungen eines Erfolgseintritts für diesen ursächlich, solange sich nur nach den bekannten Naturgesetzen eine notwendige Verbindung feststellen lässt.
|36|c) Adäquanztheorie
104Einen anderen Ansatz zur Bestimmung der Kausalität liefert die Adäquanztheorie.[104] Nach dieser sind nur solche Bedingungen kausal, die nach der Lebenserfahrung allgemein geeignet sind den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen. Regelwidrige, völlig atypische Kausalverläufe sollen vom objektiven Tatbestand nicht umfasst sein.
105Die Adäquanztheorie ist im Zivilrecht herrschend, hat sich aber im Strafrecht zu Recht nicht durchgesetzt. Denn sie vermischt die naturwissenschaftliche Kausalitätsfeststellung mit der Wertungsfrage der Adäquanz. Dadurch werden aber keine klaren Unterscheidungen ermöglicht. Auch erscheint fraglich, ob die Adäquanztheorie überhaupt als „echte“ Kausalitätstheorie einzuordnen ist, oder ob sie nicht lediglich eine Einschränkung der auf der Grundlage der Äquivalenztheorie ermittelten Ergebnisse bewirkt.[105]
d) Relevanztheorie
106Vereinzelt wird vorgeschlagen, den Kausalzusammenhang auf der Grundlage der Relevanztheorie zu ermitteln.[106] Diese will die Ursächlichkeit zunächst nach dem Gedanken der Äquivalenztheorie bestimmen, um anschließend solche Geschehensabläufe von der Haftung auszunehmen, die keine strafrechtliche Relevanz aufweisen.
107Gegen diesen Ansatz spricht insbesondere seine begriffliche Unbestimmtheit. So mag es noch einleuchten, das Zeugen eines Kindes, das sich im weiteren Verlauf seines Lebens zu einem Intensivtäter entwickelt, als strafrechtlich irrelevant einzuordnen. Wo in sonstigen Bereichen die Grenze der strafrechtlichen Relevanz und damit der Zurechenbarkeit überschritten wird, hängt indes von der zunächst zu leistenden Interpretation des Schutzzwecks des konkret betroffenen Tatbestandes ab. Ebenso wie die Adäquanz- liefert auch die Relevanztheorie darüber hinaus keine Ersetzung, sondern lediglich eine Ergänzung der Äquivalenztheorie.
2. Fallgruppen zum Kausalzusammenhang
108Trotz der gegenüber der Äquivalenztheorie erhobenen Kritikpunkte sollte sie in der Falllösung bei der Prüfung der Kausalität zugrundegelegt werden.[107] Hierbei ist zu beachten, dass Rechtsprechung und Literatur für einzelne wiederkehrende Fallgruppen konkrete Anwendungsregeln entwickelt haben bzw. eine Modifizierung der Conditio-sinie-qua-non-Formel vornehmen, um die Ursächlichkeit einzelner Verhaltensweisen sachgerecht bestimmen zu können. |37|(Prüfungs-)Relevant sind insbesondere die nachfolgend dargestellten Konstellationen.
a) Kausalität bei ungeklärtem Wirkungszusammenhang
109Insbesondere im Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung ist häufig die Frage zu klären, ob das Inverkehrbringen (oder der unterlassene Rückruf) eines bestimmten Produkts für Schädigungen der körperlichen Integrität ursächlich ist. Der BGH hat die Anwendung der Äquivalenztheorie in zwei Entscheidungen dahingehend konkretisiert, dass der Wirkungszusammenhang nicht völlig geklärt sein muss, sondern es vielmehr ausreichen kann, wenn die Ursächlichkeit sonstiger Verhaltensweisen ausgeschlossen werden kann.
110Der sog. Lederspray-Entscheidung lag der Fall zugrunde, dass drei Herstellerfirmen Lederspray produziert hatten, das kurz nach Gebrauch bei vielen Personen gesundheitliche Beeinträchtigungen (bis hin zu Lungenödemen) hervorrief. Welche der in dem Spray zusammengesetzten Substanzen die Schädigungen verursachten, konnte nicht festgestellt werden. Der BGH führte hierzu aus: „Ist in rechtsfehlerfreier Weise festgestellt, dass die – wenn auch nicht näher aufzuklärende – inhaltliche Beschaffenheit des Produkts schadensursächlich war, so ist zum Nachweis des Ursachenzusammenhangs nicht noch weiter erforderlich, dass festgestellt wird, warum diese Beschaffenheit schadensursächlich werden konnte, was also nach naturwissenschaftlicher Analyse und Erkenntnis letztlich der Grund dafür war (…). Freilich müssen dort, wo sich die Ursächlichkeit nicht auf diese Weise darlegen lässt, alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung ausgeschlossen werden können.“[108]
111In der Holzschutzmittel-Entscheidung stellte der BGH fest, dass die Klärung der Kausalität Gegenstand der freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl. § 261 StPO) sei. Ein Ursachenzusammenhang zwischen einer Holzschutzmittelexposition und einer Erkrankung sei „nicht etwa nur dadurch nachweisbar, dass entweder die Wirkungsweise der Holzschutzmittelinhaltsstoffe auf den menschlichen Organismus naturwissenschaftlich nachgewiesen oder alle anderen möglichen Ursachen einer Erkrankung aufgezählt und ausgeschlossen werden. Ein Ausschluss anderer Ursachen kann vielmehr – ohne deren vollständige Erörterung – auch dadurch erfolgen, dass nach einer Gesamtbewertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und anderer Indiztatsachen die – zumindest – Mitverursachung des Holzschutzmittels zweifelsfrei festgestellt wird.“[109]
|38|b) Nichtberücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe
112Hypothetische Kausalverläufe sind für die Prüfung des Kausalzusammenhangs bei Begehungsdelikten nicht zu berücksichtigen. Hat der Täter eine für den Erfolgseintritt kausale Handlung vorgenommen, kann er sich also regelmäßig nicht darauf berufen, dass der gleiche Erfolg auch bei Untätigbleiben seinerseits infolge anderer Umstände eingetreten wäre.[110] Bringt A den O dadurch ums Leben, dass er die Bremsen seines Wagens manipuliert und O hierdurch in einen Unfall verwickelt, ist er somit auch dann ursächlich für den Todeseintritt des O, wenn für den Fall, dass er die Bremsen unangetastet gelassen hätte, der B die identische Manipulation vorgenommen hätte. Abzustellen ist bei der Äquivalenztheorie nur auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt. Reserveursachen dürfen nicht hinzugedacht werden.[111] Unerheblich ist auch, ob andere Bedingungen den gleichen Erfolg später herbeigeführt hätten.
113Ausnahmsweise zulässig und geboten ist der Rückgriff auf einen hypothetischen Kausalverlauf zur Erfassung der Fallgruppe des Abbruchs rettender Kausalverläufe, in denen der Täter nach allgemeiner Meinung wegen eines vollendeten Begehungsdeliktes strafbar ist.[112] Schießt A ein Loch in den auf O zutreibenden Rettungsring, woraufhin O ertrinkt, während er ohne das Versenken des Rettungsrings hätte gerettet werden können, ist A somit ursächlich für den Tod des O.
c) Abgebrochene bzw. überholende Kausalität
114In Fällen der abgebrochenen bzw. überholenden Kausalität