Strafrecht Allgemeiner Teil. Klaus Hoffmann-Holland
zu bestrafen, weil schon keine Handlung des B vorliegt (aber Strafbarkeit des A, weil der Stoß eine Handlung darstellt).
89Von den Bewegungen, die durch vis absoluta erzwungen werden, sind solche Bewegungen abzugrenzen, die lediglich durch vis compulsiva, d.h. den Willen beugende Gewalt, erzwungen werden. Schlägt bspw. der starke A solange auf den B ein, bis dieser sich dem Willen des A beugt und die Schaufensterscheibe des Geschäfts von O einschlägt, so liegt eine Handlung des B vor. Ob er letztendlich wegen Sachbeschädigung zu bestrafen ist, betrifft die Wertungsfrage, ob er gerechtfertigt oder entschuldigt ist.
90Im Gegensatz zu reinen Reflexbewegungen sind Handlungen anzunehmen bei Affekthandlungen und bei automatisierten Verhaltensweisen. Dies verdeutlicht folgendes Bsp.: Der Autofahrerin A fliegt ein Insekt ins Auge. Durch ihre ruckartige Abwehrbewegung verliert sie die Kontrolle über ihren PKW und verursacht einen Zusammenstoß. Die Abwehrreaktion ist nicht völlig unwillkürlich, sondern willentlich, auch wenn sie unüberlegt erfolgt. Somit liegt eine Handlung im Rechtssinne vor.[94]
91Teilweise kann die Frage, ob eine strafrechtlich relevante Handlung vorliegt, von einer sorgfältigen Ermittlung des zutreffenden Anknüpfungspunktes für die Strafbarkeitsprüfung abhängen. So kann einer (straflosen) Nicht-Handlung als (strafbares) Vorverhalten eine Handlung vorausgegangen sein. Hiervon ist etwa auszugehen, wenn A eine Kerze anzündet, um im Bett zu lesen, hierbei jedoch einschläft und im Schlaf die Kerze umstößt, woraufhin das von A bewohne Mietshaus abbrennt. Zwar ist das Umstoßen der Kerze im Schlaf keine Handlung. Jedoch ist das Anzünden der Kerze vor dem Einschlafen Anknüpfungspunkt, um eine fahrlässige Brandstiftung zu prüfen (§ 306d StGB).
2. Leitentscheidungen
92BGHSt 23, 156, 159ff.; Strafrechtlich relevante Handlung: Ein KFZ-Führer, der weder Alkohol genossen noch Medikamente zu sich genommen hat und sich auch im Übrigen in einem ausgeruhten Zustand befindet, ermüdet infolge der Monotonie des Fahrtverlaufs und gerät infolgedessen von der Fahrbahn ab. – Nach Auffassung des BGH ist in dem Einschlafen eine strafrechtlich relevante Handlung zu sehen, da der Erfahrungssatz gelte, dass ein Kraftfahrer, bevor er während der Fahrt einschläft, deutliche Zeichen der Ermüdung an sich wahrnehmen und auf diese reagieren kann.
93OLG Hamm NJW1975, 657; Strafrechtlich relevante Handlung (vgl. schon Rn. 90): Eine PKW-Fahrerin verursacht bei einer Fahrt auf einer Landstraße einen Verkehrsunfall bei dem mehrere Personen leicht verletzt werden, weil sie durch eine ruckartige Handbewegung zur Abwehr einer ihr ins Auge geflogenen Fliege die Kontrolle über ihr Fahrzeug verliert und auf die Gegenfahrbahn gerät. – Die Abwehrreaktion stellt keine Reflex- bzw. reflexartige |31|Bewegung, sondern eine Handlung im strafrechtlichen Sinne dar. Reflexe sind Körperbewegungen, bei denen die Erregung der motorischen Nerven nicht vom Willen beherrschbar ist, sondern ohne Mitwirkung des Bewusstseins ausgelöst wird. Dazu gehören Krämpfe und Erbrechen. Die Abwehrreaktion mit der Hand beruht dagegen auf einer willentlichen Steuerung des Bewusstseins. Zwar gehen solche Abwehr- oder Schreckensbewegungen sehr schnell vonstatten. Trotz dieser Schnelligkeit fehlt es jedoch nicht am willentlichen Antrieb.
|33|2. Kapitel Tatbestand
I. Überblick
94Die Grundlage strafrechtlichen Unrechts bildet die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes.[95] Erst der Umstand, dass eine Person (möglicherweise) die tatbestandlichen Voraussetzungen einer bestimmten Strafnorm erfüllt, also bspw. vorsätzlich einen anderen Menschen tötet (vgl. § 212 Abs. 1 StGB), bietet Anlass, der Frage nach einer etwaigen Strafbarkeit nachzugehen. Insbesondere werden die Prüfungspunkte „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“ überhaupt erst dann relevant, wenn feststeht, dass eine Person tatsächlich tatbestandsmäßig gehandelt hat. Wer durch sein Verhalten keinen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, muss sich also gar nicht erst auf einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund berufen, um seine Straflosigkeit zu begründen, da als Ausfluss der durch Art. 2 Abs. 1GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit ein Verhalten solange erlaubt ist, wie es nicht ausdrücklich verboten ist.
95Der Tatbestand wird durch ein Zusammenspiel von Elementen aus dem Besonderen und dem Allgemeinen Teil des Strafrechts geprägt. Die speziellen Voraussetzungen aus dem Besonderen Teil konkretisieren das allgemeine Schema aus Tab. 2 (Rn. 43). So ergibt sich bspw. als Schema für den Tatbestand des Totschlages nach § 212 Abs. 1 StGB, der als Taterfolg den Tod eines anderen Menschen voraussetzt:
Tab. 3:
96Tatbestand des Totschlags
1. | objektiver Tatbestand |
ein anderer Mensch | |
Tod | |
Kausalität | |
objektive Zurechnung | |
2. | subjektiver Tatbestand |
Vorsatz |
97|34|Aus dem Allgemeinen Teil sind im Rahmen des objektiven Tatbestands bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten somit die Kausalität und die objektive Zurechnung zu prüfen, im subjektiven Tatbestand der Vorsatz. Kausalität und objektive Zurechnung haben die Frage zum Gegenstand, wie die Handlung des Täters mit einem bestimmten Erfolg objektiv verknüpft ist. Der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges (bei § 212 Abs. 1 StGB: Der Tod eines Menschen) begründet noch nicht die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes, vielmehr muss der Erfolg gerade vom Täter kausal und objektiv zurechenbar verursacht worden sein.[96]
II. Kausalität
98Die Prüfung der Kausalität dient der Feststellung, ob der Täter für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges ursächlich geworden ist, dass also zwischen seinem Verhalten und dem Erfolg ein naturgesetzlicher Zusammenhang besteht.[97] Es sollen solche Handlungen von der weiteren Strafbarkeitsprüfung ausgenommen werden, die schon keinerlei Bedingung für den Erfolgseintritt gesetzt haben.
1. Kausalitätstheorien
a) Äquivalenztheorie
99Grundlage für die Bestimmung der Kausalität ist die sog. Äquivalenztheorie oder Bedingungstheorie.[98] Danach ist jede Handlung kausal, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der konkrete Erfolg entfiele (Conditio-sine-qua-non-Formel). Dieser Ansatz wird als Äquivalenztheorie bezeichnet, weil danach alle Bedingungen gleichwertig (äquivalent) sind. Anhand dieser einfachen Formel können regelmäßig Ereignisse als Ursachen ausgeschlossen werden, die nicht mit dem Erfolg verknüpft sind. Ruft etwa A den O in dem Moment an, in dem dieser von B erschossen wird, so kann der Anruf des A hinweggedacht werden, ohne dass der Tod des O entfiele. Die Handlung des A ist daher nicht kausal, anders als der Schuss des B, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Tod des O entfiele.
100|35|In bestimmten Konstellationen führt die Anwendung der Äquivalenztheorie jedoch nicht weiter.[99] Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen der Bedingungszusammenhang hypothetisch unklar ist.[100] Werden etwa dem Patienten O die Arzneimittel X und Y verabreicht und erleidet O hierauf Lähmungen, kommt es für die Frage, ob das von A hergestellte Mittel X hinweggedacht werden kann, ohne