Leitfaden der Rechtsgeschichte. Sibylle Hofer

Leitfaden der Rechtsgeschichte - Sibylle Hofer


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si voluerit. (…) Et post haec nullam habeat potestatem nec ipse nec posteri eius, nisi defensor ecclesie, ipsius beneficium praestare voluerit ei (…).

      Wenn ein Freier seinen Besitz um seines Seelenheils willen an eine Kirche geben will, soll er über seinen Anteil verfügen können, nachdem er mit seinen Kindern geteilt hat. Niemand darf ihn daran hindern; weder der König noch der Herzog noch sonst irgendjemand hat das Recht, ihn daran zu hindern. Alles, was er schenkt, Höfe, Land, Sklaven oder Geld: Alles, was er um seines Seelenheils willen schenkt, das soll er in einer Urkunde festhalten und eigenhändig unterzeichnen, und er soll sechs – falls er es wünscht, auch mehr – Zeugen dazu heranziehen. (…) Danach sollen weder er noch seine Nachkommen Verfügungsgewalt darüber haben, außer der Schutzherr der Kirche will es ihnen zum Gebrauch überlassen (…).

      Derartige Regelungen belegen einen Einfluss des Christentums auf die Rechtsaufzeichnungen germanischer Völkerschaften. Sie entsprachen kirchlichen Lehren, die forderten, dass Gläubige einen Teil ihres Vermögens der Kirche überlassen sollten. Dafür wurde die Vergebung von Sünden versprochen. Dieses Versprechen stand im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass es ein Leben nach dem Tod gebe und dass Gott zu einem unbekannten Zeitpunkt über die Lebenden sowie die Verstorbenen bzw. über deren Seelen ein sog. Jüngstes Gericht abhalten werde. Es wurde erwartet, dass dabei Personen, die ein sündhaftes Leben geführt und keine Vergebung für ihre Sünden erlangt hatten, zu ewigem Aufenthalt in der Hölle verurteilt würden. Die anderen erhielten dagegen einen Platz im Himmel. Vor diesem Hintergrund verfolgten Eigentumsübertragungen an die Kirche das Ziel, die Position der Geber beim Jüngsten Gericht zu verbessern. Es handelte sich somit um Verfügungen für das „Seelenheil“.

      Wenn in verschiedenen Leges betont wurde, dass eine Übertragung von Vermögenswerten an die Kirche zulässig sei, kann daraus geschlossen werden, dass derartige Verfügungen auf Widerstand stießen. In diese Richtung deutet auch die Bemerkung in der zitierten Passage, dass niemand solche Verfügungen verhindern dürfe. Widerspruch war insbesondere von den Kindern des ehemaligen Eigentümers zu erwarten, da deren spätere Erbschaft durch solche Übertragungen vermindert wurde. Häufig bildeten Ländereien den Gegenstand von Verfügungen zugunsten der Kirche. Da die germanischen Völkerschaften vor allem Ackerbau betrieben, hatten Ländereien einen hohen Wert. Nicht selten waren sie die Lebensgrundlage der Familie. Um der nächsten Generation diese Grundlage zumindest teilweise zu sichern, wurden in einigen Stammesrechten die Verfügungen für das Seelenheil auf einen bestimmten Teil des Vermögens begrenzt (sog. Freiteil). Bei den Bayern (s. Zitat) musste beispielsweise der Vater zunächst das Vermögen mit seinen Söhnen teilen; erst danach durfte er – nur über seinen Anteil – zugunsten der Kirche verfügen. Außerdem ließen sich die ehemaligen Eigentümer häufig von der Kirche die Zusicherung geben, dass sie und ihre Erben auch nach der Eigentumsübertragung das Grundstück weiter nutzen durften (s. Andeutung im Zitat am Ende).

      74. Keine Testierfreiheit

      Die germanischen Völkerschaften kannten keine letztwilligen Verfügungen. Aus diesem Grund wurden Eigentumsübertragungen für das Seelenheil in Gestalt von Schenkungen vorgenommen und noch zu Lebzeiten des Schenkers vollzogen. Das Vermögen ging beim Tod eines Familienvaters auf seine Kinder – in der Regel die Söhne – über. Sofern, vermutlich unter Einfluss des römischen Rechts, Testamente in den Leges erwähnt wurden, waren diese nicht mit dem Gedanken von Testierfreiheit verbunden. Unbeschränkte Verfügungsmöglichkeiten bestanden höchstens in dem Fall, dass keine nahen Angehörigen vorhanden waren. Ansonsten konnten mit Testamenten nur die Erbquoten der Kinder geringfügig verändert werden.

      75. Gerichtsorganisation

      Über die Organisation der Gerichte, deren Zuständigkeiten sowie das gerichtliche Verfahren gibt es nur lückenhafte Informationen. Sicher ist, dass die germanischen Völkerschaften Gerichte hatten. Es bestand jedoch keine Verpflichtung, Streitigkeiten vor diesen auszutragen (s. Rn. 77 ff.). Im Hinblick auf die Gerichtsorganisation lässt sich feststellen, dass es, wie später (s. Rn. 132), eine Funktionsteilung zwischen Verhandlungsleitung und Urteilsfällung gab. Den Vorsitz führte eine hochrangige Person; die Entscheidung wurde von der Bevölkerung getroffen.

      Etwas genauer bekannt ist die Situation bei den Franken (s. Rn. 64). Im Fränkischen Reich fand ab dem 6. Jahrhundert zunehmend eine hoheitliche Ordnung des Gerichtswesens statt. Es gab verschiedene Institutionen für die Beilegung von Streitigkeiten, wobei allerdings keine klare Zuständigkeitsabgrenzung bestand. Die Unterschiede betrafen vor allem die Verfahrensbeteiligten. Beim sog. echten Ding (Gericht), das in regelmäßigen Abständen tagte, fällte die Gemeinschaft, d. h. alle waffenfähigen Männer einer bestimmten Gegend, das Urteil. Mit dem Vorsitz waren die Grafen betraut. Dabei handelte es sich um Personen, die von den Königen als Verwalter eines Bezirks bestellt wurden und somit die königliche Macht repräsentierten. Wegen der Belastung der Bevölkerung durch häufige Gerichtssitzungen beschränkte Karl der Große die Zusammenkunft dieses Gremiums auf drei Sitzungen im Jahr. Ansonsten sollten Streitigkeiten von Gerichten erledigt werden, bei denen nur eine kleine Gruppe von Personen für die Urteilsfällung zuständig war (scabini: Schöffen). Diese Personen wurden vom Grafen oder den Königsboten ausgesucht.

      Kapitular Kaiser Lothars I. (Concessio generalis, Allgemeiner Erlass, 823), 2: Neque cogantur ad placita venire peaeter ter in anno, sicut in capitulare continetur, excepto scabinis et causatoribus et testibus necessariis; quia omnem passionem volumus auferre, ut populus noster pacifice sub nostro regimine vivere possit.

      Und niemand soll gezwungen werden, öfter als dreimal im Jahr zur Gerichtsverhandlung zu kommen, wie es in einem früheren Kapitular festgehalten ist, mit Ausnahme der Schöffen, der Parteien und der nötigen Zeugen. Dies wurde angeordnet, weil Wir alle Beschwernisse beseitigen wollen, damit das Volk friedlich unter Unserer Herrschaft leben kann.

      Außerdem gab es Gerichte, bei denen der König selbst oder andere Personen in seinem Auftrag den Vorsitz führten.

      Die Verfolgung von Straftaten war vom Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols geprägt. Wurde ein Rechtsgut verletzt, verhängte nur selten ein Gericht gegen den Täter eine Strafe. In der Regel lag die Reaktion in der Hand der Opfer bzw. deren Familie. Sie konnten entscheiden, ob sie selbst Rache üben oder gegen Zahlung einer Geldsumme auf diese verzichten wollten.

      Fehde

      78. Selbsthilfe

      Die übliche Reaktion auf Rechtsverletzungen waren Rachemaßnahmen durch das Opfer oder dessen Familie (volkssprachlich „faida“: Fehde). Dabei wurde nicht Gleiches mit Gleichem vergolten, sondern man versuchte, dem Gegner möglichst viel Schaden zuzufügen. Häufig kam es zu Angriffen auf Personen sowie zu Beschädigungen oder Zerstörungen von Sachen. Typische Fehdehandlungen waren die Verletzung oder Tötung des Täters, seiner Verwandten und Knechte, die Wegnahme von Vieh sowie das Abbrennen von Häusern. Gewalttätige Racheakte galten als zulässig. Sie dokumentieren das Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols. Weil sich die Angegriffenen wehrten und beide Seiten meist durch Verwandte oder Knechte unterstützt wurden, führten Selbsthilfemaßnahmen nicht selten zu jahrelangen Kämpfen.


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