Klausurenkurs im Strafprozessrecht. Marco Mansdörfer
anderer Auffassung/anderer Ansicht
Zur Idee, Konzeption und Verwendung dieses Buchs
1. Vernachlässigung der praktisch relevanten Rechtsanwendungsmethodik im Strafverfahrensrecht durch die universitäre Ausbildung
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Das Strafverfahrensrecht ist praktisch außerordentlich bedeutsam. Die Verfolgung des öffentlichen Strafanspruchs gegenüber dem Straftäter ist zentral für die Wahrung der Rechtsordnung und stößt – mit Blick auf die mediale Berichterstattung und allgemeinen Reaktionen auf bestimmte Verfahrensausgänge – auch auf ein hohes gesellschaftliches Interesse. Ungeachtet der späteren Karriere werden entscheidende methodische Grundlagen für die berufliche Praxis und mithin professionelle Rechtsanwendung im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Studiums vermittelt und erlernt. Dementsprechend ist zu verzeichnen, dass das Strafverfahrensrecht in der universitären Ausbildung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dies zeigt vor allem der steigende Umfang und Anteil der bei den Studierenden gefürchteten „strafprozessualen Zusatzfrage“ in der strafrechtlichen Klausur der Ersten Juristischen Prüfung. In der weiteren praktischen Ausbildung im Rahmen Juristischen Vorbereitungsdienstes mit dem Ziel der Zweiten Juristischen Prüfung steht das Strafprozessrecht sogar im Zentrum der strafrechtlichen Ausbildung, wobei die methodischen Grundlagen der Rechtsanwendung vorausgesetzt werden. Deren Erwerb ist und bleibt Gegenstand und Aufgabe des universitären Studiums.
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In der universitären Ausbildung sollen dem Studierenden und späteren Praktiker auf der einen Seite die wesentlichen normativen Grundlagen und Hintergründe der einzelnen Rechtsgebiete und Vorschriften vermittelt werden. Auf der anderen Seite werden zu jedem Rechtsgebiet die methodischen Grundlagen der Rechtsanwendung vermittelt, da die Rechtswissenschaft wegen ihres Gegenstands eine angewandte Wissenschaft darstellt. Gerade im letzten Punkt besteht beim formellen Strafrecht gegenüber dem Öffentlichen Recht und dem Zivilrecht trotz dessen hoher praktischer Bedeutung eine Diskrepanz. An Lehrwerken, die die Schulung methodischer Fertigkeiten im gutachterlichen Umgang mit dem öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrensrecht (etwa BVerfGG, VwGO), sowie dem Zivilprozessrecht mangelt es nicht. Diese stehen in ihrer Zahl und Qualität den Werken zur Vermittlung der theoretischen Grundlagen in nichts nach. Auch das materielle Strafrecht wird gegenüber den die theoretischen Grundlagen vermittelnden Lehrbüchern hinsichtlich der Methodik der Fallbearbeitung durch eine Vielzahl an Lehrwerken zur Klausurenlehre hinreichend abgedeckt. Demgegenüber sind Publikationen, die sich mit der Methodik der rechtsgutachterlichen Fallbearbeitung im Strafprozessrecht auseinandersetzen gegenüber den theoretischen Lehrwerken nur rar gesät. Die Studierenden können sich zwar einer Fülle an Lehrbüchern größeren oder konzentrierteren Umfangs bedienen, um sich die theoretischen Inhalte des Strafprozessrechts aus einer Auswahl unterschiedlicher didaktischer Perspektiven anzueignen. Bei der Erschließung der Methodik der rechtsgutachterlichen Anwendung der Materie stehen hingegen im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten nur wenig didaktische Hilfen zur Verfügung. Dies bringt erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Der Studierende ist gehalten, sich die methodischen Grundlagen weitgehend frei anzueignen. Wegen des hohen Aufwands eines solchen Vorgehens, wird der Einzelne in Anbetracht der Fülle des übrigen prüfungsrelevanten Gesamtstoffs dazu geneigt sein, es eher beim theoretischen Lernen zu belassen. Dieses Bild vermittelte auch die bisherige allgemein zu beobachtende Klausurpraxis reiner Fragenklausuren, die eine gutachterliche Bearbeitung nicht zwingend voraussetzt. Die Erfahrung aus den durchgeführten Leistungskontrollen zu den eigenen Lehrveranstaltungen zeigt zudem, dass Prüflinge mit gutachterlich zu bearbeitenden strafprozessualen Aufgaben selbst nur geringen Umfangs zum Teil bereits völlig überfordert sind. Erfreulicherweise ist inzwischen sowohl in der allgemein zu beobachtenden universitären Klausurpraxis als auch innerhalb der Ersten Juristischen Prüfung ein Zuwachs gutachterlich zu beantwortender Fragestellungen zu verzeichnen. Reine Gutachtenklausuren stellen in der universitären Prüfpraxis bisweilen noch nicht den Regelfall dar; ein dahingehender Trendwechsel bleibt abzuwarten. Somit reicht es für den Studierenden bei der bisherigen Entwicklung nicht mehr aus, lediglich theoretisches Wissen auswendig zu lernen und auf eine reine Wissensabfrage in der Leistungskontrolle zu hoffen. Auf der anderen Seite stellt das Fehlen einer Auswahl methodischer Lehrwerke zum Strafprozessrecht eine Hürde und ein Hemmnis gleichermaßen dar. Das für den Studierenden weiterhin bestehende Dilemma ist nicht aufgelöst, das Defizit in der universitären Ausbildung noch keinesfalls behoben.
2. Anliegen und Ziel des vorliegenden Buchs
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Die vorliegende Fallsammlung soll einen Beitrag leisten, die bestehende Lücke in der rechtswissenschaftlichen Studienliteratur zum Strafprozessrecht zu schließen. Es richtet sich sowohl an Studierende der Einführungsvorlesung zum Strafprozessrecht, die sich die rechtliche Materie erst erschließen, als auch an fortgeschrittene Studierende bei der Vorbereitung auf die Erste Juristische Prüfung, die ein Gefühl für die Methode des strafprozessualen Rechtsgutachtens mit Blick auf die spätere Referendarausbildung bekommen möchten. Die Fallsammlung stellt einen Einstieg in die gutachterliche Fallbearbeitung im Strafprozessrecht dar. Eine Auswahl einfacher bis fortgeschrittener Aufgabenkonstellationen zu typischen strafprozessualen Fragestellungen soll dabei unterstützen, die für eine gutachterliche Fallbearbeitung notwendigen Fertigkeiten zu entwickeln und die systematischen Zusammenhänge der Regelungen der Strafprozessordnung vor dem Hintergrund der rechtsgutachterlichen Umsetzung nach und nach zu erkennen und zu verstehen. Darüber hinaus wurde das Format entwickelt, um Rechtsreferendaren bei der Entwicklung des für die Erstellung praktischer strafprozessualer Ergebnisse notwendigen systematisch-strukturierten Denkens zu unterstützen. Bei der Arbeit mit diesem Buch ist zu bedenken, dass die Fallsammlung kein Lehrbuch darstellt bzw. ein solches in keinem Fall ersetzt. Wie in allen Bereichen erfordert das erfolgreiche Erlernen einer rechtlichen Materie die ausgewogene Auseinandersetzung mit Dogmatik und Methodik. Die Sammlung ist dazu gedacht, gemeinsam mit einem theoretisch-dogmatischen Lehrwerk – auch vorlesungsbegleitend – als Lehr- und Anschauungsmaterial für die Erarbeitung des Strafprozessrechts zu dienen. Die in der Fallsammlung erörterten Fragestellungen wurden exemplarisch so gewählt, um dem Leser an die Methodik der Fallbearbeitung im Strafprozessrecht schrittweise heranzuführen und in die Lage zu versetzen, eigenständige gutachterliche Lösungen zu unbekannten strafprozessualen Aufgaben entwickeln zu können.
a) Komplexität der Strafprozessordnung und Methodik der Fallbearbeitung
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Das Strafprozessrecht stellt sich dem Studierenden der Grundvorlesung in Bezug auf die gutachterliche Fallbearbeitung gegenüber den anderen prozessualen Rechtsgebieten der juristischen Ausbildung wie das sprichwörtliche „Buch mit sieben Siegeln“ dar. Das Strafverfahren weist aufgrund seiner Grundstruktur als reformierter Inquisitionsprozess und seiner Unterteilung in Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahren eine Fülle unterschiedlicher rechtsgutachterlich untersuchbarer Fragestellungen auf. Diese können entweder isoliert, kontextual zu