Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
oder kraft gesetzlicher Anordnung, etwa im Ausweisungsrecht, keiner gerichtlichen Kontrolle. Die gilt zumal für staatspolitisch bedeutende Akte, für die sich der Begriff des justizfreien Hoheitsakts einbürgert. Insoweit bildet sich das deutsche Verwaltungsrecht als der „unpolitische“ Teil des öffentlichen Rechts aus, beherrscht durch juristisches und „sachliches“ Denken.[151] Bei nicht wenigen Autoren gerät die Politikferne des Verwaltungsrechts zu einem Ideal.
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Umstritten ist über lange Zeit die eigentliche Stoßrichtung der gerichtlichen Kontrolle. Frühe Konzeptionen, so bei Paul Laband und Rudolf von Gneist, konzipieren sie analog zum französischen Modell als eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle. Subjektiv-öffentliche Rechte im heutigen Verständnis sind dogmatisch vor dem Hintergrund des alle Hoheitsgewalt monopolisierenden Staates zunächst kaum konzipierbar.[152] Erst Georg Jellineks Begründung von subjektiv-öffentlichen Rechten in der freien Selbstverpflichtung des Staates[153] bietet eine Plattform, auf der sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle als eine Institution des Rechtsschutzes, des Schutzes individueller Rechte, in Deutschland durchsetzt. Diese Konzeption soll überaus erfolgreich sein: Gerichtliche Kontrolle und (subjektiver) Rechtsschutz entwickeln sich fast zu Synonymen, was das Verständnis anderer Zugänge wie derjenigen in Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder der Europäischen Union erschwert.
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Die rechtsstaatlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts legen Grundlagen für ein rechtliches Anerkennungsverhältnis und damit für die Emanzipation des Untertans zum Bürger. Die sich im weiteren Verlauf durchsetzende Konzeption der gerichtlichen Kontrolle als Institution des subjektiven Rechtsschutzes führt zu einer spezifischen Sicht:[154] Das aus der Perspektive des Rechtsschutzes konzipierte Verwaltungsrechtsverhältnis begreift den Bürger als Verfechter seiner rechtlich geschützten Interessen. Darüber hinausgehende öffentliche Interessen stehen außerhalb dieser Konzeption. Aus diesem Vermächtnis resultieren wichtige Spannungen zwischen dem deutschen Verwaltungsrecht und dem Recht der europäischen Integration.[155]
3. Die weitere Entwicklung bis zur Schwelle des Grundgesetzes
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Die berühmteste, wenngleich bestrittene verwaltungsrechtliche Formel der Weimarer Jahre lautet „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“.[156] Sie steht für die Beharrungskräfte in Staat und Verwaltung gegenüber einer liberaldemokratischen Fortentwicklung des Verwaltungsrechts im Lichte der im Ausland oft als exemplarisch verstandenen Weimarer Verfassung.[157] Die Unerfülltheit des verfassungsrechtlichen Projekts zeigt sich etwa anhand von Art. 107 der Weimarer Reichsverfassung, wonach Verwaltungsgerichte gegen „Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden“ des Reiches und der Länder in Stellung gebracht sein müssen, und zwar „zum Schutze der einzelnen“. Entsprechend dem eher programmatischen denn normativen Verständnis dieser Verfassung verläuft die Einrichtung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte wie auch die Gründung des Reichsverwaltungsgerichts schleppend.[158] Letzteres sollte erst unter der nationalsozialistischen Diktatur im Jahre 1941 unter Zusammenlegung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofes Wien entstehen.[159] Aber natürlich haben im Nationalsozialismus auch die Verwaltungsgerichte keinen Schutz gegen Staatsunrecht geboten.[160] Nach dem Zweiten Weltkrieg wird insbesondere auf amerikanisches Drängen zunächst eine zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit reorganisiert, neben die im Jahre 1953 das Bundesverwaltungsgericht tritt.[161]
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Die Innovationen des Verwaltungsrechts unter dem Grundgesetz sind kaum aus der Weimarer Zeit,[162] sondern vielmehr als Reaktion auf die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur zu erklären. Dies gilt gerade für viele Besonderheiten des geltenden deutschen Verwaltungsrechts im europäischen Vergleich wie die weitreichende Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, vor allem mittels der Grundrechte, den Umfang und die Dichte verwaltungs- und verfassungsgerichtlicher Kontrolle oder eine Reihe von Sonderdogmatiken wie die Unterscheidung von Ermessen und Beurteilungsspielraum.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › IV. Verwaltung und Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz bis zur Europäisierung
1. Die institutionelle Entwicklung
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Unter dem Grundgesetz entwickelt sich zwischen 1949 und 1990 das, was heute als die „klassische“ Gestalt der zeitgenössischen deutschen Verwaltung verstanden werden kann.[163] Bisweilen wird insoweit gar eine „veritable Neugründung des Öffentlichen Rechts“ in Deutschland unter „Anverwandlung älterer Traditionen“ angenommen.[164] Das Grundgesetz mag insoweit als Zäsur erscheinen, die, anders als vergleichbare Zäsuren in anderen Staaten,[165] die Aufgabe von Teilen des bisherigen Entwicklungspfades im Verwaltungsrecht bedeutet. Im Mittelpunkt steht dabei ein neues Staatsverständnis, wonach, in den Worten des Herrenchiemseer Entwurfs für eine neue Verfassung, „der Staat […] um des Menschen willen da“ zu sein hat.[166] Diese Wahrnehmung steht im Einklang mit der allgemeinen, allerdings durchaus bestrittenen Geschichtsschreibung, 1945 als „Stunde Null“ zu begreifen. Wie auch immer: Das deutsche Verwaltungsrecht gewinnt unter dem Grundgesetz eine neue Form, die ihren Zenit Ende der 1980er Jahre erreicht, also just zu dem Zeitpunkt, zu dem sie der Epochenwechsel des Jahres 1989/1990 vor neue Herausforderungen und tiefgreifende Veränderungen stellt.[167]
a) Organisatorische Grundlagen
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In organisatorischer Hinsicht knüpft das Grundgesetz freilich an die seit der Reichsgründung 1867/1871 bestehenden Traditionslinien an; es findet kein grundsätzlicher Wechsel statt.[168] Das Grundgesetz behält das Konzept des Exekutivföderalismus bei,[169] so dass der Vollzug der Bundesgesetze – für Landesgesetze gilt das ohnehin – in der Regel Sache der Länder ist, der Bund aber über abgestufte Einwirkungsmöglichkeiten verfügt (Art. 83ff. GG). Sieht man von der Ministerialverwaltung, dem Auswärtigen Dienst, der Bundesfinanz-, Bundeswehr-, Eisenbahn-, Telekommunikations-, Luftverkehrs- und Schifffahrtsverwaltung ab, bleibt öffentliche Verwaltung grundsätzlich Landesverwaltung und das Feld, auf dem sich die Staatlichkeit der Länder vor allem entfaltet. Das belegt nicht zuletzt ein Blick auf die Beschäftigten: Von den derzeit 5,5 Millionen Angehörigen des öffentlichen Dienstes entfallen nur ca. 500 000 auf die Bundesverwaltung und etwa 374 000 auf die Sozialversicherungsträger, jedoch 2,3 Millionen auf den Bereich der Landes- und 1,72 Millionen auf die Kommunalverwaltung.[170] Das zwingt die Länder, fast 50% ihres Budgets für Personalkosten aufzuwenden. In den 1960er Jahren entstehen im Bereich der Verwaltung vielfältige Formen der Verflechtung zwischen Bundes- und Landesebene, die eine demokratische Verantwortungszurechnung erschweren und die Staatlichkeit der Länder zunehmend in Frage stellen.[171]
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Bundes- und Landesverwaltung lassen sich in die hierarchisch gegliederte unmittelbare Staatsverwaltung und die mittelbare Staatsverwaltung unterteilen, bei welcher der Staat Verwaltungsaufgaben nicht selbst wahrnimmt, sondern durch rechtlich selbständige Körperschaften (z.B. Gemeinden, [Land-]Kreise, Universitäten, Kammern), Anstalten (z.B. öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten) und Stiftungen (z.B. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Stiftung Weimarer Klassik).[172] Der hierarchische Aufbau bedeutet, dass die Spitze in der ihr unterstellten Organisation „durchregieren“, also der Minister jede Sache an sich ziehen kann. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie insbesondere das schwedische Beispiel zeigt.[173]
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Unter den Trägern mittelbarer Staatsverwaltung nehmen die Gemeinden und (Land-)Kreise einen hervorgehobenen Platz