Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Weichenstellung des Lüth-Urteils von 1958, nach der die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als objektive Wertentscheidungen verstanden werden.[196] Seitdem wird von Jurastudenten in fast jeder verwaltungsrechtlichen Klausur eine Prüfung verfassungs- und insbesondere grundrechtlicher Aspekte verlangt, was die Internalisierung dieser Konstitutionalisierung in der Breite nachhaltig befördert: Heute diskutieren Demonstranten und Polizei den Verlauf von Aufzügen nach Maßgabe verfassungsgerichtlicher Urteile.
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Die Konstitutionalisierung des deutschen Verwaltungsrechts erfolgt freilich nicht über Nacht. Sie stand den Akteuren in Verwaltung, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsrechtswissenschaft zudem keineswegs als kohärentes „Programm“ vor Augen. Obwohl Fritz Werner bereits 1959, und zwar in denkbar mächtiger Position als Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, die Formel vom „Verwaltungsrecht als konkretisierte[m] Verfassungsrecht“ kreiert hatte,[197] und damit das Leitmotiv für eine flächendeckende Umwertung und Neuausrichtung nahezu des gesamten Verwaltungsrechts in den folgenden Jahrzehnten, war dies doch ein schwieriger Prozess, in dem sich immer wieder neue „Baustellen“ auftaten; Zweifel werden erst seit den achtziger Jahren verstärkt geäußert.[198]
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Etwa ab Mitte der 1960er Jahre löst die Entfaltung des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen unter dem Signum der sog. Wesentlichkeitsdoktrin[199] schließlich einen bis dahin ungekannten Verrechtlichungsschub aus, dem durch die Normativität der Verfassung und ihre unmittelbare Anwendbarkeit auf die Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat zusätzlicher Nachdruck verliehen wird. Die Fälle reichen vom Strafvollzug über das Schul- und Hochschulrecht bis zum Standesrecht der freien Berufe.
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Betrachtet man die rechtsstaatliche Expansion des klassischen deutschen Verwaltungsrechts, so lassen sich namentlich die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (a), die Beseitigung grundrechtsfreier Räume (b) sowie die Bewältigung von Leistungsverwaltung (c) und informalem Verwaltungshandeln (d) als wesentliche Etappen ausmachen – auch in chronologischer Hinsicht.
a) Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
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Aus der Retrospektive lässt sich feststellen, dass die Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts in gewisser Weise mit der Entdeckung bzw. Verallgemeinerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips begann, also einem dem Verwaltungsrecht selbst entstammenden Grundsatz. Im preußischen Polizeirecht bereits angelegt,[200] kann sich dieser Grundsatz nach und nach auch in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts als allgemeiner Rechtsgrundsatz etablieren,[201] bevor er mit dem sog. Apotheken-Urteil[202] in die Grundrechtsdogmatik Eingang findet[203] und über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Unionsrecht auch in andere europäische Rechtsordnungen transportiert wurde.[204] Dies belegt im Übrigen eine häufig übersehene Abhängigkeit des Verfassungsrechts vom Verwaltungsrecht, entpuppt sich doch eine der expansivsten verfassungsrechtlichen Figuren als verwaltungsrechtliche Kreation.[205]
b) Die Beseitigung grundrechtsfreier Räume
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Schon in der Weimarer Zeit hatte der in Deutschland lehrende Schweizer Fritz Fleiner vor der „Flucht […] in das Privatrecht“ gewarnt,[206] also vor der – nach wie vor ungebrochenen – Neigung der öffentlichen Hand, sich mit der ihr in der Regel offen stehenden Wahl privatrechtlicher Handlungsformen (unzulässigerweise) auch der öffentlich-rechtlichen Bindungen zu entledigen. Diesen Ansatz fortführend vertrat die von Hans Julius Wolff begründete und von der Rechtsprechung umgehend aufgenommene Lehre vom Verwaltungsprivatrecht[207] die Auffassung, dass die öffentliche Verwaltung, jedenfalls in den Fällen, in denen sie die Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts für die unmittelbare Erfüllung von Verwaltungsaufgaben – der Daseinsvorsorge oder der Wirtschaftslenkung – einsetzt, „verwaltungsprivatrechtlich“ gebunden sei, mithin insbesondere die Grundrechte als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte beachten müsse.[208] Vergleichbares gilt bei Organisationsprivatisierungen, also der gesellschaftsrechtlichen Verselbständigung von Verwaltungsaufgaben mittels einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer Aktiengesellschaft oder eines Vereins. Solche öffentlich beherrschten juristischen Personen des Privatrechts werden seitdem als Teil der öffentlichen Verwaltung begriffen und unterliegen deshalb den Bindungen des öffentlichen Rechts, insbesondere der Grundrechte.[209]
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Unter dem Einfluss von Art. 1 Abs. 3 GG brach sich darüber hinaus die Einsicht Bahn, dass die Grundrechte auch in jenen Verwaltungsrechtsverhältnissen Geltung beanspruchen, die man früher als „besondere Gewaltverhältnisse“ bezeichnet hatte. Darunter verstand man im Anschluss an Otto Mayer „die verschärfte Abhängigkeit, welche zugunsten eines bestimmten Zweckes öffentlicher Verwaltung begründet wird für alle Einzelnen, die in den vorgesehenen besonderen Zusammenhang treten“.[210] Diese „verschärfte Abhängigkeit“ bestand in den Verwaltungsrechtsverhältnissen zwischen Beamten und Dienstherrn, Strafgefangenen und Justizvollzugsanstalt, Schülern und Schule, Soldaten und Armee bzw. den jeweiligen Trägern, und wurde auch nach 1949 noch mit einem Grundrechtsverzicht begründet, der nach dem Grundgedanken des volenti non fit iniuria mit dem Eintritt in ein solches Rechtsverhältnis fingiert wurde, auch wenn dieser Eintritt – wie bei Strafgefangenen – nicht freiwillig geschah. Mit seiner Strafgefangenen-Entscheidung aus dem Jahre 1972 hat das Bundesverfassungsgericht der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis[211] den Boden entzogen und klargestellt, dass die Grundrechte auch im Strafvollzug gelten und nur durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden können. Es hat diese Rechtsprechung später im Hinblick auf das Schulrecht bestätigt und ausgebaut. Indem es etwa für die Einführung der obligatorischen Förderstufe,[212] den Erlass schulrechtlicher Ordnungsmaßnahmen,[213] für den Sexualkundeunterricht[214] oder die Disziplinarmaßnahme der Schulentlassung[215] eine Regelung durch den Gesetzgeber gefordert hat, hat es implizit auch die Grundrechtsrelevanz all jener Maßnahmen anerkannt – mit allen Konsequenzen, was etwa die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angeht.
c) Die Leistungsverwaltung
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Die zunehmende Prosperität der sog. Wirtschaftswunderjahre und die in dieser Zeit angehäuften Überschüsse in den öffentlichen Haushalten ermöglichten einen substantiellen Ausbau der Leistungsverwaltung: Das Sozialhilferecht wurde kodifiziert,[216] eine staatliche Studien- und Ausbildungsförderung eingeführt,[217] das Kindergeld in staatliche Regie übernommen,[218] staatliche Anreize für die Vermögensbildung gesetzt[219] und nicht zuletzt auch Subventionen in großem Umfang vergeben.[220] Allerdings gilt das Sozialrecht als eine eigene, weitgehend verselbständigte Submaterie und bildet eine Disziplin, welche auf die Entwicklung des Verwaltungsrechts im Ganzen nur wenig Einfluss nahm, anders als etwa in Schweden oder im Vereinigten Königreich.[221]
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Die auf das Rechtsverständnis insgesamt ausstrahlende dogmatische Verarbeitung des Sozialstaates erfolgte maßgeblich in verfassungsrechtlichen Kategorien. Diese waren, da auf die Eingriffsverwaltung ausgerichtet, auf die Leistungsverwaltung nur ungenügend vorbereitet, ungeachtet einer Reihe von Arbeiten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.[222] Der Vorbehalt des Gesetzes in der Leistungsverwaltung wie auch die Funktion der Grundrechte im Leistungsstaat waren wenig erforscht. So wusste man lange Zeit etwa nicht genau, ob und inwieweit die Grundrechte originäre Teilhaberechte darstellen[223] und beispielsweise einen Anspruch auf Schaffung neuer Studienplätze[224] verbürgen.
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Zwar setzte sich hier Mitte der 1970er Jahre die Auffassung durch, dass die Grundrechte – von Ausnahmefällen abgesehen – keine originären Teilhaberechte verbürgen, sondern dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, bei der Ausgestaltung