Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) anerkannt hatte, stand fest, dass die Auferlegung jeglicher Pflicht einen – rechtfertigungsbedürftigen – Grundrechtseingriff darstellt und dass jedermann, gestützt jedenfalls auf Art. 2 Abs. 1 GG, insofern auch einen Anspruch auf Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang geltend machen kann. Daher geht die – von Rechtsprechung und Lehre einmütig akzeptierte[262] – sog. Adressatentheorie davon aus, dass der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungshandelns grundsätzlich einen umfassenden Anspruch auf dessen Rechtmäßigkeit besitzt – von der Einhaltung der behördlichen Zuständigkeitsordnung über das Verwaltungsverfahren bis hin zu der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Vergleichbares gilt, soweit das Gesetz der Ausgestaltung grundrechtlich radizierter Teilhabeansprüche dient.[263] Im Bereich bipolarer Verwaltungsrechtverhältnisse hat dies eine weitgehende Subjektivierung des Gesetzmäßigkeitsprinzips zur Folge.
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Schwieriger gestalteten sich die Dinge im Bereich multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse, was auch mit der nur zögerlichen Anerkennung faktischer Grundrechtseingriffe zusammenhing. Im Detail bereitet die Bestimmung der subjektiv-öffentlichen Rechte hier nach wie vor erhebliche Probleme; der Trend zu ihrer substantiellen Ausdehnung unter Rückgriff auf die Grundrechte und ihre norminternen Direktiven ist jedoch eindeutig. Das mögen zwei Beispiele belegen: Im Bau- und Planungsrecht nutzte das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmten Schweinemäster-Entscheidung das „Gebot der Rücksichtnahme“, um eigentlich rein objektiv-rechtlich konzipierten Normen wie den Regelungen über die Zulässigkeit von Bauvorhaben in Gebieten, für die kein Bebauungsplan erlassen ist (§§ 34 und 35 des Baugesetzbuches),[264] unter qualifizierten Voraussetzungen doch Schutznormcharakter für die Nachbarschaft zuzusprechen, was in der Sache nichts anderes war als ein kaschierter Rückgriff auf die norminternen Direktiven der einschlägigen Grundrechte der Nachbarn, vor allem des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG.[265] Im öffentlichen Wirtschaftsrecht, um ein zweites Beispiel zu nennen, begann die Literatur schon 1970, kommunalrechtliche Vorschriften, welche die kommunale Wirtschaftstätigkeit begrenzten, wegen der Ausstrahlungswirkung der in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit als subjektiv-öffentliche Rechte der privaten Konkurrenten zu qualifizieren.[266] Es sollte aber noch weitere 35 Jahre dauern, bevor die Verwaltungsgerichte nach verschlungenen Umwegen über das Wettbewerbsrecht[267] das eigentlich Offensichtliche anzuerkennen begannen.[268] Vergleichbares gilt für die späte Anerkennung des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) im Vergaberecht.[269] Mit der nach 1990 einsetzenden flächendeckenden Europäisierung des Verwaltungsrechts und der Flut unionsrechtlich begründeter individueller (Klage-)Rechte hat die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte aufgrund nationaler Entscheidungen mittlerweile jedoch erheblich an Bedeutung verloren.[270]
4. Die Verwaltung und das demokratische Prinzip
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In der Perspektive des klassischen deutschen Verwaltungsrechts kommt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine überragende Bedeutung zu. Der Bürger erscheint in ihr vor allem als natürlicher Widerpart der Verwaltung, deren „Eingriffe“ in seine Rechtssphäre er auf der Grundlage des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Dass das Verwaltungsrecht vor diesem Hintergrund rechtsschutzzentriert sein muss, liegt auf der Hand.
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Diese Perspektive ist zeitlos gültig, denn nicht nur der Verwaltungs-, sondern auch der Verfassungsstaat ist freiheitsgefährdend,[271] und in zahlreichen Hinsichten ist der staatliche Zugriff intensiver denn je.[272] Gleichwohl beinhaltet sie ein im demokratischen Rechtsstaat unzulängliches Verständnis des Bürgers.[273] Das allein rechtsstaatlich ausgerichtete Verwaltungsrecht begrenzt den Bürger auf die gesellschaftliche Sphäre und seine individuellen Rechte. Die Sorge um das Gemeinwohl als solches verbleibt „dem Staat“, „der Verwaltung“, in der Tradition einer „Obrigkeit“, die des Bürgers insoweit nicht bedarf.
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Die Rechtsschutzzentriertheit des deutschen Verwaltungsrechts hatte zudem eine problematische Blickverengung des Verwaltungsrechts zur Folge, in welcher der Stellenwert des (objektiv-rechtlichen) Gesetzmäßigkeitsprinzips sowie die Steuerung und Effektivität der Verwaltung zu stark an den Rand gedrängt wurden. Das sollte das deutsche Verwaltungsrecht in der Konfrontation mit den Anforderungen der Europäisierung mitunter als besonders schwerfällig erscheinen lassen, etwa mit Blick auf die Vorschriften über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§§ 48ff. VwVfG). In den 1990er Jahren sollte dies den Ruf nach einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ auslösen, deren zentrales Anliegen es ist, die „klassische“ Rechtsschutzperspektive durch eine Steuerungsperspektive zu ergänzen.[274]
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Die Fixierung des Verwaltungsrechts auf den Individualrechtsschutz und die damit verbundene Koppelung des Rechtsschutzes an die mögliche Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte erweist sich mittlerweile auch als Hindernis für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. So wird der Paradigmenwechsel von der grundsätzlich geheimen Verwaltung, deren Unterlagen nur für den Dienstgebrauch bestimmt sind und die in der Regel allein Beteiligten Akteneinsichtsrechte zugesteht (§ 29 VwVfG), zur „gläsernen“ Verwaltung, in welcher der freie Aktenzugang die Regel und seine Verweigerung die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme ist, nur mühsam und schleppend vollzogen.[275] Darüber hinaus tun sich Verwaltung und Verwaltungsrecht schwer mit im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung immer wichtiger werdenden Popular- und Verbandsklagen sowie der selbständigen Einklagbarkeit von Verfahrensrechten,[276] was mitunter zu grotesk wirkenden Konstruktionen zwingt.[277]
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Schließlich macht es die Rechtsschutzzentrierung des Verwaltungsrechts unmöglich, den Beitrag zu erkennen und dogmatisch einzuordnen, den die Rechtsprechung für die Gewährleistung des Gesetzmäßigkeitsprinzips leistet. Für die mit der Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes verbundene demokratiespezifische Ventil- und Kompensationsfunktion, für den nicht unerheblichen Beitrag der Rechtsprechung zur demokratischen Legitimationsvermittlung staatlicher Entscheidungen, fehlen dem deutschen öffentlichen Recht insoweit die Antennen.[278]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › V. Der Begriff des Verwaltungsrechts
V. Der Begriff des Verwaltungsrechts
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Die juristische Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt maßgeblich über das Definieren von Begriffen, gerade in der deutschen Tradition, zu der die Begriffsjurisprudenz einen fundamentalen Beitrag geliefert hat. Gemeinsam mit den Aufbauschemata bilden zentrale Definitionen das Unverzichtbare, um die Staatsexamina zu bestehen; sie formen also den harten Kern der juristischen Bildung, auf dem weitere Kenntnisse und Fähigkeiten aufsetzen. Sie sind sozusagen das gemeinsame „Betriebsprogramm“ aller deutschen Juristen als Moment ihrer kollektiven Identität. Somit verspricht eine Analyse des Begriffs des Verwaltungsrechts eine Quintessenz dieses Rechtsgebiets.
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Dem Verwaltungsrecht ist eine ganz besondere Definition zu Eigen, denn es ist nach herrschendem Verständnis durch seine Definitionslosigkeit definiert.[279] Es ist Teil des kollektiven Wissens deutscher Juristen, für viele vielleicht gar das einzige bekannte Grundlagenproblem des Verwaltungsrechts, dass es mangels einer positiven Definition der Verwaltung keine entsprechende Definition des Verwaltungsrechts gibt. In den beiden erfolgreichsten deutschen Lehrbüchern heißt es: „Von jeher ist die Verwaltungsrechtswissenschaft um eine Definition