BGB-Erbrecht. Lutz Michalski
Wechselbezüglichkeit vorliegt, ist nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (→ Rn. 377 ff.) für jede Verfügung gesondert zu ermitteln, wobei der übereinstimmende Wille der Ehegatten zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung maßgeblich ist.[54]
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Nur dann, wenn der Wille der Ehegatten im Wege der Auslegung nicht zuverlässig festgestellt werden kann, ist die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 heranzuziehen.[55] Danach ist Wechselbezüglichkeit im Zweifel in zwei Fallkonstellationen anzunehmen: (i) wenn sich die Eheleute gegenseitig bedacht haben, oder (ii) wenn der eine Ehegatte vom anderen durch eine Verfügung eine Zuwendung bekommen hat und er dafür – quasi als Gegenleistung – eine Verfügung zugunsten einer Person trifft, die mit dem anderen Ehegatten verwandt ist oder ihm sonst nahe steht. Beide Fallkonstellationen könne auch miteinander verbunden werden[56], z.B. indem die Ehegatten sich gegenseitig bedenken und zusätzlich bestimmen, dass ein mit beiden verwandter oder beiden nahestehender Dritter Erbe des Letztversterbenden werden soll. Der Begriff „verwandt“ ist i.S.d. Legaldefinition des § 1589 zu verstehen.[57] Wer eine „sonst nahestehende Person“ ist, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen[58], wobei ein strenger Maßstab angelegt werden muss, um die Vermutung nicht zur gesetzlichen Regel werden zu lassen[59]. Umstritten ist, ob auch juristische Personen bzw. Personengesellschaften „nahestehende Personen“ sein können[60]; zumindest für den Fall einer von den Eheleuten von Todes wegen errichteten Stiftung, mit der diese ihr Lebenswerk fortgesetzt wissen wollen, wird man dies jedoch bejahen müssen[61].
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Beispiel 1:
Die Eheleute X und Y setzen sich in ihrem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig als Alleinerben und als Schlusserben die gemeinsamen Kinder ein. Die gegenseitige Einsetzung zum Alleinerben ist gem. § 2270 Abs. 2 Alt. 2 im Zweifel wechselbezüglich. Die Einsetzung der gemeinsamen Kinder als Schlusserben steht dagegen regelmäßig nicht im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander, da nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht anzunehmen ist, dass ein Ehegatte die gemeinsamen Kinder nur deshalb testamentarisch bedenkt, weil es auch der andere tut.[62]
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Beispiel 2:
M und F setzen sich in ihrem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig als Alleinerben und die Schwester Z von F als Schlusserbin ein. Sofern die Auslegung des Testaments zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, ist gem. § 2270 Abs. 2 im Zweifel anzunehmen, dass die Erbeinsetzung der Z als Schlusserbin zwar wechselbezüglich zur Erbeinsetzung des M, aber nicht zur Erbeinsetzung der F ist (denn ein Verwandtschaftsverhältnis besteht nur zwischen F und Z). Je nach den Umständen des Einzelfalls könnte Z allenfalls eine „sonst nahestehende Person“ des M sein; hierfür genügt die bloße Schwägerschaft jedoch grundsätzlich nicht[63].
a) Unwirksamkeit einer Verfügung
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Relevanz hat die Wechselbezüglichkeit zunächst im Falle der Nichtigkeit oder des Widerrufs einer Verfügung: Gem. § 2270 Abs. 1 ist dann kraft Gesetzes auch die korrespondierende Verfügung des anderen Ehegatten unwirksam. Die Ursache der Nichtigkeit (z.B. Formfehler, Testierunfähigkeit, Anfechtung) ist dabei irrelevant.[64]
b) Widerruf
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Weiterhin hat die Wechselbezüglichkeit zur Folge, dass das Recht zum Widerruf eingeschränkt ist: Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten bedarf er einer speziellen Form (→ Rn. 248 f.), nach dessen Tod ist er gänzlich ausgeschlossen (→ Rn. 250 ff.).
aa) Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten
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Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten kann ein Ehegatte eine wechselbezügliche Verfügung zwar grundsätzlich frei widerrufen, der Widerruf bedarf jedoch gem. § 2271 Abs. 1 S. 1 der für den Rücktritt vom Erbvertrag geltenden Form des § 2296, d.h. er muss durch eine persönliche notariell beurkundete Erklärung gegenüber dem anderen Ehegatten erfolgen. Dadurch soll verhindert werden, dass ein Ehegatte seine Verfügung heimlich widerruft.[65] Mit dem wirksamen Widerruf erlischt gem. § 2270 Abs. 1 auch die wechselbezügliche Verfügung des anderen Ehegatten.
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Die Ehegatten können ihre wechselbezüglichen Verfügungen aber selbstverständlich auch gemeinsam widerrufen.[66] Dabei sind grundsätzlich sämtliche Widerrufsformen zulässig, die auch bei einem „normalen“ Testament zulässig sind, nur müssen eben – um „Heimlichkeiten“ zu verhindern – beide Ehegatten gemeinschaftlich handeln. Möglich sind somit: ein gemeinschaftliches Widerrufstestament (§ 2254), eine widersprechende Verfügung in einem gemeinschaftlichen Testament (§ 2258) oder Erbvertrag (§ 2289), durch gemeinschaftliche Vernichtung oder Veränderung gem. § 2255 oder durch gemeinschaftliche Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung (§§ 2272, 2256).[67]
Die formlose Zustimmung zu einer neuen (einseitigen) Verfügung von Todes wegen des anderen Ehegatten[68] bzw. die nachträgliche Zustimmung zur Vernichtung des gemeinschaftlichen Testaments[69] ist nicht ausreichend. Eine notariell beurkundete Zustimmungserklärung reicht nur aus, wenn Vermächtnisse oder Auflagen aufgehoben werden (argumentume § 2291).[70] Ein später errichtetes einfaches Testament hat aber dann Vorrang vor dem gemeinschaftlichen Testament, wenn es den überlebenden Ehegatten lediglich rechtlich besser stellt, da der Schutzzweck des § 2271 Abs. 1 in einem solchen Fall nicht berührt ist[71].
bb) Nach dem Tod des anderen Ehegatten
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Mit dem Tod des anderen Ehegatten erlischt das Recht zum Widerruf (§ 2271 Abs. 2 S. 1 Hs. 1). Dahinter steht wiederum der Gedanke, dass das Vertrauen des anderen Ehegatten in die Rechtsbeständigkeit der wechselbezüglichen Verfügung geschützt werden soll: Genauso wenig wie ein „heimlicher“ Widerruf hinter seinem Rücken zu Lebzeiten soll auch ein nachträglicher Widerruf nach seinem Tod zulässig sein.[72]
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Der überlebende Ehegatte hat jedoch gem. § 2271 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 ein Recht zur Aufhebung seiner wechselbezüglichen Verfügung, wenn er das ihm Zugewendete ausschlägt. Denn dann kann dem Überlebenden kein widersprüchliches Verhalten mehr vorgeworfen werden; wenn er selbst nichts erhält, muss er auch nicht mehr gebunden bleiben.[73] Ein Teil der Literatur will § 2271 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 analog anwenden, wenn ein Dritter durch den verstorbenen Ehegatten bedacht wurde und dieser Dritte ausschlägt.[74] Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen, denn der dem § 2271 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 zugrunde liegende Gedanke des Verbots widersprüchlichen Verhaltens greift im Falle der Begünstigung eines Dritten gerade nicht.[75]
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Den Ehegatten steht es jedoch frei, dem Überlebenden durch die Aufnahme eines sog. Änderungsvorbehalts die Möglichkeit zu eröffnen, seine wechselseitigen Verfügungen generell oder unter bestimmten Bedingungen zu ändern oder aufzuheben; ggf. kann sich dem Testament ein solcher Änderungsvorbehalt auch im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung entnehmen lassen.[76]
4. Umfang der Bindung
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