Juristische Methodenlehre. Mike Wienbracke
zur Konsequenz, dass die hiervon betroffene Vorschrift auf Dauer für sämtliche Spiele ausfällt. Zur Frage, wer der „Schiedsrichter“ ist, der hierüber entscheidet, siehe Rn. 54 f.
52
Betrifft der Widerspruch zum höherrangigen Recht nur einen Teil der niederrangigen Vorschrift, so ist grundsätzlich nur dieser Normteil nichtig, nicht aber die gesamte Rechtsnorm (vgl. auch den Rechtsgedanken des § 44 Abs. 1 VwVfG: „soweit“).[49] Diese sog. Teilnichtigkeit kann jedoch dann zur Nichtigkeit der gesamten Vorschrift und darüber hinaus sogar des gesamten Gesetzes, dem die betreffende Rechtsnorm angehört, führen (Gesamtnichtigkeit), wenn die übrigen – für sich betrachtet mit höherem Recht vereinbaren – Bestimmungen dann entweder keine selbstständige Bedeutung mehr haben oder aber die nichtige Vorschrift Teil einer Gesamtregelung ist, „die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verlöre, nähme man einen ihrer Bestandteile heraus, wenn also die nichtige Bestimmung mit den übrigen Bestimmungen so verflochten ist, dass sie eine untrennbare Einheit bilden, die nicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann“[50], vgl. auch § 139 BGB, § 44 Abs. 4 VwVfG.
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Hinweis
Von der Frage, ob eine Rechtsnorm wirksam (gültig/nicht nichtig) oder unwirksam (ungültig/nichtig) ist, ist das Begriffspaar „rechtmäßig/rechtswidrig“ zu unterscheiden, das sich auf die (Un-)Vereinbarkeit einer einzelnen Maßnahme (z.B. Verwaltungsakt) mit dem geltenden Recht bezieht.[51]
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Handelt es sich bei der einer höherrangigen innerstaatlichen Regelung (Bundes-/Landesverfassung) widersprechenden niederrangigen Vorschrift allerdings um ein nachkonstitutionelles (vgl. Art. 123 Abs. 1, Art. 145 Abs. 2 GG) formelles Bundes- oder Landesgesetz (Rn. 12), so ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit – sowie die damit i.d.R.[52] verbundene Nichtigkeitserklärung (siehe z.B. § 95 Abs. 3 S. 1, 2 BVerfGG) – gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundes- bzw. Landesverfassungsgericht vorbehalten, sog. Verwerfungsmonopol.[53] Bis zu einer solchen allgemeinverbindlichen Feststellung (siehe z.B. § 31 Abs. 2 BVerfGG) müssen die unter der Herrschaft des Grundgesetzes erlassenen Parlamentsgesetze daher befolgt werden.[54]
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Rechtsverordnungen und Satzungen werden als Gesetze nur im materiellen, nicht aber auch im formellen Sinn (Rn. 12, 14, 40 ff.), von Art. 100 Abs. 1 GG hingegen nicht erfasst, weshalb die Frage ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, d.h. ihrer Gültigkeit, von jedem Fachgericht in eigener Zuständigkeit zu prüfen ist, vgl. auch § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG.[55] Gelangt dieses hierbei zu der Auffassung, dass die betreffende Vorschrift mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, so ist diese Entscheidung („Die […] wird für unwirksam erklärt“) allerdings nur in den Fällen der abstrakten Normenkontrolle allgemein verbindlich, siehe § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO. Im Übrigen, d.h. sofern es sich bei der Gültigkeit des jeweiligen Gesetzes im nur-materiellen Sinn lediglich um eine Vorfrage zu der vom Gericht zu treffenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer auf ein solches Gesetz gestützten anderen staatlichen Maßnahme handelt (z.B. Steuerbescheid auf Grundlage einer kommunalen Hundesteuersatzung), ist die Frage nach der Gültigkeit der Rechtsverordnung bzw. Satzung selbst nicht Streitgegenstand, sog. inzidente Normenkontrolle. Hält das Gericht in einem derartigen Fall die jeweilige Vorschrift wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig, so wirkt diese Feststellung daher lediglich zwischen den Beteiligten des betreffenden Rechtsstreits, d.h. „inter partes“ (vgl. § 121 Nr. 1 VwGO; Rn. 20) – und gerade nicht „erga omnes“ (lat. = „zwischen allen“).[56] Im Ergebnis unterbleibt die Anwendung der betreffenden Bestimmung damit lediglich im konkreten Fall.[57] Andere Gerichte können die Gültigkeit derselben Rechtsnorm in anderen Verfahren mithin durchaus abweichend beurteilen.[58]
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Beispiel[59]
Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) hält sich A nicht an das Gesetz und gestattet seinen Gästen weiterhin das Rauchen. Daraufhin ergeht ein Bußgeldbescheid gegenüber A, den dieser vor dem zuständigen Gericht mit der Begründung angreift, dass das Gesetz, auf dessen Grundlage der Bescheid erlassen wurde, sein Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletze. Das Gericht teilt die Auffassung des A.
Handelt es sich bei dem Gesetz um
• | ein Parlamentsgesetz, muss das Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren aussetzen und dem BVerfG die Frage vorlegen, ob das Gesetz mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist. Nachdem das BVerfG hierüber verbindlich entschieden hat, setzt das Gericht das Verfahren fort. In diesem hat A nur dann Erfolg, wenn das BVerfG das Gesetz zuvor für nichtig erklärt haben sollte; |
• | eine Rechtsverordnung/Satzung und hält das Gericht diese wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG für (verfassungs-)rechtswidrig, so ist sie nichtig. In diesem Fall fehlt es an der notwendigen Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Bußgeldbescheids. A hat ohne Weiteres Erfolg. |
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Abweichend vom Vorstehenden hat die Unvereinbarkeit einer Vorschrift des deutschen Rechts mit dem diesem gegenüber höherrangigen EU-Recht (Rn. 45) dagegen nicht zur Konsequenz, dass Ersteres nichtig wäre (kein Geltungsvorrang des EU-Rechts; Rn. 51). Vielmehr lässt auch in einer solchen Situation der Vorrang des EU-Rechts vor dem innerstaatlichen Recht der EU-Mitgliedstaaten dieses in seinem Geltungsanspruch unberührt und führt, falls eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist (Rn. 170), „nur“ dazu, dass Letzteres auf den konkreten Fall insoweit nicht anwendbar ist, als es die entsprechende unionsrechtliche Regelung verlangt, sog. Anwendungsvorrang des EU-Rechts (siehe auch das Beispiel in Rn. 171). Im Übrigen, d.h. außerhalb der vom EU-Recht erfassten Fallgestaltungen (so z.B. regelmäßig in Bezug auf Drittstaatsangehörige; „Nicht-Kollisionsfälle“[60]), ist das ungeachtet seiner Unionsrechtswidrigkeit fortgeltende nationale Recht dagegen weiterhin anwendbar.[61]
58
Hinweis
Bildlich gesprochen verhindert das EU-Recht die Anwendung einer ihm widersprechenden nationalen Vorschrift dadurch, dass es sich im konkreten Fall vor diese schiebt. Derart verdeckt ist der Rechtsanwender daran gehindert, auf sie zur Lösung der jeweiligen Fragestellung zuzugreifen (Behandlung des Symptoms „Normwiderspruch“). Demgegenüber führt eine Normenkollision innerhalb der deutschen Rechtsordnung i.d.R. dazu, dass die unterrangige Rechtsnorm, die im Widerspruch zu einer höherrangigen steht, vernichtet wird und somit auf gar keinen Sachverhalt mehr Anwendung findet (Beseitigung der Ursache des Normwiderspruchs; Rn. 50). Im Alltag der Rechtsanwendung führt diese Differenzierung zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang freilich häufig nicht zu praktischen Unterschieden.[62]
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Beispiel[63]
Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn.