Strafrecht Allgemeiner Teil II. Sabine Tofahrn
wirken auch jene Normen hinsichtlich der Extension und dem Anwendungsbereich eines Straftatbestands konstitutiv. Folglich stellt sich ein Rechtsirrtum im Vorfeld der Tat nicht anders dar als jeder andere Rechtsirrtum. Der Täter verkennt hier wie dort den Anwendungsbereich des Straftatbestands und dehnt ihn zu seinen Lasten aus. Er interpretiert in ein normatives Tatbestandsmerkmal etwas hinein, was objektiv besehen nicht davon erfasst ist. In diesen Fällen muss nach dieser Lehre von einem Wahndelikt ausgegangen werden.
Beispiel
Nach der Vorstellung des A im obigen Fall sollte die Täuschungshandlung kausal einen Irrtum hervorrufen. Auf diesem Irrtum sollte kausal das klageabweisende Urteil und damit die Vermögensverfügung und der Vermögensschaden beruhen. Der Schaden hätte nach der rechtsirrigen Vorstellung des A in der Aberkennung des Anspruchs, der auf einer unterbliebenen Belehrung beruhte, bestanden. Das Ganze sollte nach der Vorstellung des A auch eine rechtswidrige Bereicherung darstellen. Dass ein Vermögensschaden auf der Seite des Opfers niemals eintreten konnte, weil das Opfer gegenüber A keinen zivilrechtlichen Anspruch hatte, wusste A nicht. Ebenso wenig wusste er, dass aufgrund dessen die erstrebte Bereicherung auch nicht rechtswidrig war. Nach Auffassung des BGH stellte sein diesbezüglicher Irrtum jedoch kein Wahndelikt dar, sondern einen strafbaren untauglichen Versuch, da A dem Grunde nach § 263 richtig erkannt habe. Er habe gewusst, dass es um die Zufügung eines Vermögensschadens auf Seiten des B ginge und dass ein solcher Schaden beim Prozessbetrug in der Aberkennung eines Anspruchs liege, was grundsätzlich zutreffend sei. Aufgrund dessen habe er das Wesen des § 263 zutreffend erfasst.[10] Zu demselben Ergebnis würde die Lehre von der versuchsbegründenden Wirkung jedes Vorfeldirrtums gelangen, da sich der Irrtum des A auf Normen des Zivilrechts bezieht. Lediglich die Lehre von der Straflosigkeit aller selbstbelastenden Rechtsirrtümer würde zu einem straflosen Wahndelikt gelangen. Ihr ist zugute zu halten, dass es aus (zivil-)rechtlichen Gründen niemals zu einer Strafbarkeit des A kommen konnte, da es den von ihm vorgestellten Anspruch nicht gibt. Die Auffassung würde allerdings den tatsächlich vorhandenen Handlungsunwert, der darin liegt, dass A § 236 zutreffend erfasst hat, unberücksichtigt lassen.
JURIQ-Klausurtipp
Die Abgrenzung untauglicher Versuch – Wahndelikt gehört zusammen mit den anderen Irrtumsproblematiken zu den schwierigen Problemen im Strafrecht. Sie liegen in der Klausur „ganz weit vorne“, wenn Sie die Problematik erkannt, benannt und jedenfalls mit der herrschenden Meinung gelöst haben. Dazu müssen Sie sich immer fragen: „Hat der Täter die Norm/das Tatbestandsmerkmal verstanden?“ Wird diese Frage bejaht, so liegt nach h.M. ein untauglicher Versuch vor.
2. Teil Versuch und Rücktritt des Alleintäters › B. Versuch › IV. Unmittelbares Ansetzen
IV. Unmittelbares Ansetzen
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Nachdem Sie anhand des Tatentschlusses ermittelt haben, welche Tat der Täter begehen wollte, müssen Sie nun prüfen, ob der Täter Handlungen vorgenommen hat, mit welchen er gem. § 22 unmittelbar zur Tat angesetzt hat.
Eine Straftat durchläuft dabei grundsätzlich verschiedene Entwicklungsstufen.
Zunächst fasst der Täter den Entschluss zur Begehung der Straftat, dann wird die Straftat entsprechend diesem Entschluss vorbereitet. Die Vorbereitung mündet in der Ausführung der Tat und der Verwirklichung des Tatbestandes. Damit ist die Tat jedenfalls vollendet. Der Täter hat sich strafbar gemacht. Sofern es sich um ein Dauerdelikt oder um ein Delikt mit überschießender Innentendenz handelt, kommt nach der Vollendung die Beendigung, bei welcher die Tat ihren tatsächlichen Abschluss findet.
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Problematisch beim Versuch ist die Abgrenzung des unmittelbaren Ansetzens von der straflosen Vorbereitungshandlung.
Nach der in der Klausur zugrunde zu legenden, herrschenden „gemischt subjektiv-objektiven Theorie“ [11]liegt ein unmittelbares Ansetzen dann vor, wenn
• | der Täter (subjektiv) die Schwelle zum „Jetzt geht's los“ überschritten hat,[12] |
• | die Handlung nach dem Plan des Täters so eng mit der Ausführungshandlung verknüpft ist, dass sie bei ungestörtem Fortgang ohne Zäsur und ohne weitere wesentliche Zwischenschritte unmittelbar in die Verwirklichung des Tatbestandes münden kann und |
• | somit aus der Sicht des Täters das Angriffsobjekt schon konkret gefährdet erscheint.[13] |
Sie können sich also folgende Kurzdefinition merken:
Ein unmittelbares Ansetzen liegt vor, wenn Täter die Schwelle zum „Jetzt geht's los“ überschritten hat, aus seiner Sicht keine weiteren Zwischenakte mehr nötig sind und das Rechtsgut konkret gefährdet ist.
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Unter Zugrundelegung dieser Definition können Sie die Abgrenzung wie folgt vornehmen:
• | Hat ein Täter die Ausführungshandlung des jeweiligen Tatbestandes vorgenommen, so liegt grundsätzlich das unmittelbare Ansetzen vor, sofern das Opfer keine Mitwirkungshandlung vornehmen muss. |
Beispiel
A hat mit Tötungsvorsatz auf B eingestochen, B überlebt diesen Angriff jedoch aufgrund einer sofort eingeleiteten, ärztlichen Rettungsmaßnahme.
Hier liegt unproblematisch ein versuchter Totschlag vor. Mit dem Zustechen hat A die erforderliche tatbestandsmäßige Handlung ausgeführt, so dass die Schwelle von der straflosen Vorbereitungshandlung zur strafbaren Ausführungshandlung überschritten wurde.
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• | Begibt sich der Täter zum Opfer oder wird dem Opfer aufgelauert, so beginnt der Versuch erst dann, wenn aus Tätersicht zwischen Täter und Opfer eine räumlich-zeitliche Nähebeziehung hergestellt ist, die es dem Täter ermöglicht, sofort auf das Opfer einzuwirken. |
Beispiel
Um einen Tankwart auszurauben, klingeln A und B, mit Strumpfmasken über dem Gesicht und schussbereiten Pistolen in der Hand, an der Haustür des Tankwarts in der Erwartung, dass dieser die Haustüre öffnen werde. Es ist geplant, sofort mit der Pistole zu drohen, den Tankwart zu fesseln und dann zur Duldung der Wegnahme des Geldes zu nötigen. Wider Erwarten erscheint jedoch niemand.
Der BGH[14] hat in diesem Fall das unmittelbare Ansetzen zum Raub gemäß §§ 249, 250 bejaht, da die räumlich-zeitliche Nähebeziehung zwischen dem Täter und dem Opfer aus Sicht des Täters hergestellt war. Wäre der Tankwart, wie geplant, erschienen, hätten die Ausführungshandlungen des Raubes (Gewaltanwendung)