Grundrechte. Daniela Schroeder
er sich im Internet schon einige Unis in studentenfreundlichen Städten ausgesucht. Jetzt braucht er nur noch einen Studienplatz. Er weiß, dass es sehr viele Altersgenossen gibt, die ebenfalls BWL studieren wollen. Im Internet hat er auch schon gelesen, dass es mehr Bewerber als Studienplätze für BWL geben wird. Nun ist er sich nicht sicher, wie seine Chancen stehen, im nächsten Semester einen Studienplatz zu bekommen. Der studierwillige P kann sich auf sein Grundrecht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG berufen. Er hat ein Recht auf Zulassung zum frei gewählten Studium an einer staatlichen Hochschule. Da die Ausbildungskapazitäten an den staatlichen Hochschulen aber nicht unerschöpflich sind, werden die staatlichen Hochschulen wegen der großen Nachfrage nicht alle Studierwilligen zum Studium im nächsten Semester zulassen können. In seinem grundlegenden Numerus clausus-Urteil vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, die Hochschulen seien zur Ausschöpfung ihrer Ausbildungskapazitäten verpflichtet.[25] Wegen des Bewerberandrangs werden die staatlichen Hochschulen aber eine Auswahl unter den studierwilligen Bewerberinnen und Bewerbern treffen müssen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht im Numerus clausus-Urteil die Auffassung vertreten, das Recht auf Zulassung zum frei gewählten Studium nach Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG verwandele sich wegen der beschränkten Ausbildungskapazitäten in ein Recht auf eine sachgerechte, gleichheitsmäßige Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber um einen Studienplatz; dieses Recht ergebe sich aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip.
Das Recht auf eine sachgerechte, gleichheitsmäßige Auswahl beinhaltet das Recht auf ein sachgerechtes, gleichheitsmäßiges Auswahlverfahren unter Anwendung sachgerechter, gleichheitsmäßiger Auswahlkriterien.[26]
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Derivative Leistungsrechte folgen nicht allein aus dem thematisch einschlägigen Grundrecht, sondern bestehen i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip. Danach ist der Staat zur Gleichbehandlung der Anspruchsteller verpflichtet und darf einen Anspruchsteller nicht ohne sachlichen Grund von der staatlichen Leistung ausschließen.
JURIQ-Klausurtipp
Ein derivatives Leistungsrecht prüfen Sie daher in drei Schritten:
1. | Zuerst untersuchen Sie, ob die öffentliche Gewalt anderen Grundrechtsberechtigten bereits Leistungen gewährt hat. |
2. | Ist dies der Fall, prüfen Sie anschließend, ob der Anspruchsteller mit diesen Grundrechtsberechtigten vergleichbar ist. |
3. | Bejahen Sie dies, gehen Sie schließlich der Frage nach, ob der Anspruchsteller ohne sachlichen Grund von der staatlichen Leistung ausgeschlossen wird. Sie prüfen also, ob ein sachlicher Grund für den Leistungsausschluss vorliegt. Liegt ein sachlicher Grund vor, besteht kein Anspruch auf die begehrte Leistung; andernfalls ist der Leistungsausschluss des Anspruchstellers verfassungswidrig. |
c) Gleichheitsrechte
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Im Gegensatz zu den Freiheits- und Leistungsrechten, die primär ein bestimmtes staatliches Verhalten verbieten bzw. gebieten, zielen die Gleichheitsrechte primär auf ein relatives Verhalten der öffentlichen Gewalt. Die öffentliche Gewalt soll sich in bestimmten Fällen nicht anders verhalten, als sie sich in gleichgelagerten Fällen verhalten hat. Wenn sie sich in bestimmten Fällen anders verhält, darf sie dies nicht ohne sachlichen Grund. Sie muss hierbei zulässige Differenzierungskriterien anwenden oder eine ausreichende Legitimation der Ungleichbehandlung vorweisen. Bei den Gleichheitsrechten dominiert somit die Gleichbehandlungs- bzw. Nichtdiskriminierungsfunktion.
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Gleichheitsrechte gibt es im Grundgesetz an verschiedenen Stellen: Art. 3 Abs. 1 GG enthält das allgemeine Gleichheitsrecht. Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3, Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 1–3 und Art. 38 GG garantieren spezielle Gleichheitsrechte (s.u. Rn. 674 ff.).
d) Mitwirkungsrechte
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Neben den herkömmlichen Freiheits-, Leistungs- und Gleichheitsrechten gibt es auch Grundrechte als Mitwirkungsrechte. Sie gewährleisten in erster Linie die Mitwirkung des Bürgers am inneren Staatsleben (sog. staatsbürgerliche Rechte). Hierzu gehören insbesondere die grundrechtsgleichen Rechte des Wahlrechts (Art. 38 GG) und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG).
3. Objektiv-rechtliche Funktionen der Grundrechte
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Neben der subjektiv-rechtlichen Funktion sind verschiedene objektiv-rechtliche Funktionen der Grundrechte anerkannt. Die Grundrechte stellen insoweit objektive Gewährleistungen dar (s.o. Rn. 12).
a) Einrichtungsgarantien
aa) Allgemein
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Einige Grundrechte enthalten nicht nur subjektiv-öffentliche Rechte, sondern garantieren auch den Bestand bestimmter Rechtseinrichtungen. Solche sog. Einrichtungsgarantien gewährleisten den Bestand von Normenkomplexen, der notwendig ist, um das betreffende Grundrecht (überhaupt) ausüben zu können. So garantiert z.B. Art. 7 Abs. 4 GG das Rechtsinstitut der Privatschule.[27]
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Ob ein Grundrecht eine Einrichtungsgarantie enthält, erkennen Sie oft bereits am Wortlaut des Grundrechts. So gewährleistet Art. 6 Abs. 1 GG die Rechtsinstitute Ehe und Familie;[28] Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet neben dem Rechtsinstitut Erbrecht auch das Rechtsinstitut Eigentum.[29]
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In ihrem wesensmäßigen Kernbereich stehen die Einrichtungsgarantien nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Einrichtungsgarantien als solche dürfen daher nicht abgeschafft werden.
Beispiel
T ist 90 Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit. Sein Testament hat er schon vor Jahren errichtet. Er besitzt ein Haus an der Nordsee und möchte dies später einmal seiner geliebten Nichte vererben. Eines Morgens liest er in der Zeitung, dass der Gesetzgeber beschlossen hat, zur Sanierung des Finanzhaushalts die auf Privatimmobilien anfallende Erbschaftssteuer auf sagenhafte 75 % zu erhöhen. T ist empört. Er findet, dass das Vererben von Immobilien demnächst nur noch eine Farce ist. – Art. 14 Abs. 1 GG garantiert das Institut des Erbrechts. Hebt der Gesetzgeber wie hier die auf Privatimmobilien anfallende Erbschaftssteuer in einer Größenordnung an, die den Erben übermäßig belastet mit der Folge, dass das Vererben vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Erblassers sinnlos wird und das in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistete Rechtsinstitut der Privaterbfolge letztlich nur noch eine leere Hülse darstellt, verletzt der Gesetzgeber das Rechtsinstitut der Privaterbfolge.[30]
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Der wesensmäßige Kernbereich von Einrichtungsgarantien wird allgemein eng gefasst, um den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht übermäßig einzuschränken. Verstöße gegen Einrichtungsgarantien sind daher selten. In der Fallbearbeitung werden Sie daher meist zu dem Ergebnis gelangen, dass der