Grundrechte. Daniela Schroeder
Personenmehrheiten, sofern sie eine hinreichende Selbständigkeit und gefestigte innere Organisation aufweisen, die eine einheitliche Willensbildung und -bekundung nach außen hin ermöglichen.[5] Für unser Beispiel oben (Rn. 83) bedeutet dies, dass die von E und F gegründete OHG keine schlichte Personenmehrheit, sondern vielmehr eine juristische Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG ist, so dass die erste Voraussetzung des Art. 19 Abs. 3 GG vorliegt.
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Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob es sich bei der juristischen Person um eine inländische Personenmehrheit handelt, denn nur inländische juristische Personen können sich auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die juristische Person ihren Sitz, und zwar den Sitz ihrer Hauptverwaltung, im Inland, d.h. im Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, hat (sog. Sitztheorie). In unserem Beispiel oben (Rn. 83) ist diese Voraussetzung ohne weiteres zu bejahen. – Juristische Personen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, müssen wegen des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbotes wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) den inländischen juristischen Personen gleichgestellt werden.[6] Hätten E und F in unserem Beispiel oben (Rn. 83) eine der OHG vergleichbare Handelsgesellschaft in einem Mitgliedstaat der EU gegründet, dürfte diese Gesellschaft im Inland nicht schlechter als die nach deutschem Gesellschaftsrecht gegründete OHG behandelt werden; ihr müsste vielmehr derselbe Grundrechtsschutz wie der nach deutschem Gesellschaftsrecht gegründeten OHG gewährt werden.
Hinweis
Bei der vom Bundesverfassungsgericht nunmehr vollzogenen Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt es sich um eine europarechtlich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes. Gegen diese Anwendungserweiterung könnten zwar der eindeutige Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG (die Formulierung „inländisch“ bezieht sich auf das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland) sowie der Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 3 GG sprechen.[7] Für die Anwendungserweiterung werden aber die folgenden zwei Gründe angeführt:[8] Zum einen wirke sich die Anwendungserweiterung hier ausschließlich zugunsten der ihren Sitz im EU-Ausland habenden Grundrechtsträger aus und sei daher nicht von vornherein unzulässig; zum anderen zwinge der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts dazu, dass gegenläufige mitgliedstaatliche Normen (einschließlich Normen des Verfassungsrechts) bis zur Grenze der Identität des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG bzw. Art. 4 Abs. 2 AEUV)[9] unangewendet bleiben müssen. Da die Anwendungserweiterung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Identität des Grundgesetzes nicht verletze, müsse Art. 19 Abs. 3 GG europarechtskonform ausgelegt und angewendet werden.
Beachten Sie, dass juristische Personen aus Nicht-EU-Staaten grundsätzlich nicht grundrechtsfähig sind. Auf sie ist Art. 19 Abs. 3 GG nach seinem Wortlaut nicht anwendbar. Die Privilegien, die juristischen Personen aus EU-Mitgliedsstaaten infolge gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben zuteil werden, gelten für sonstige ausländische juristische Personen nicht. Eine Ausnahme ist jedoch hinsichtlich der sog. Justizgrundrechte anerkannt.[10]
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Auf die Staatsangehörigkeit der Personen, die sich zu einer juristischen Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG zusammengeschlossen haben, kommt es nicht an. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) wäre es danach für die Qualifizierung der OHG als inländische juristische Person unerheblich, wenn z.B. E ägyptischer Staatsangehöriger wäre und F die chinesische Staatsangehörigkeit besäße.
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Im dritten Schritt untersuchen Sie, ob das Grundrecht, auf das sich die inländische juristische Person beruft, „seinem Wesen nach“ auf diese inländische juristische Person anwendbar ist. Die wesensmäßige Anwendbarkeit setzt zunächst voraus, dass das betreffende Grundrecht eine korporative Seite aufweist, d.h. kollektiv ausgeübt werden kann. Eine kollektive Seite in diesem Sinne ist z.B. bei den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 12 Abs. 1, Art. 13, Art. 14 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) steht das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG in Rede. Es kann kollektiv ausgeübt werden.
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Ob ein Grundrecht seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist, hängt des Weiteren entscheidend davon ab, ob die Grundrechtsgewährleistungen auch von einer juristischen Person selbst wahrgenommen werden können. Dies ist der Fall, wenn sich die juristische Person in einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“, die mit der Lage einer natürlichen Person vergleichbar ist, befindet.[11] Das in Rede stehende Grundrecht darf daher weder an die physische Existenz noch an die natürlichen Eigenschaften des Menschen anknüpfen. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) kann sich die OHG auf die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Als Pflichtmitglied in der Handwerkskammer befindet sich die OHG in einer typischen Gefährdungslage, die der Lage vergleichbar ist, wenn eine Einzelperson Pflichtmitglied in der Kammer ist. Die möglicherweise verletzten Grundrechte knüpfen weder an die physische Existenz noch an die natürlichen Eigenschaften des Menschen an.
(3) Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
(a) Grundsatz
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Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte (deutsche) öffentliche Gewalt. Demzufolge sind juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften des öffentlichen Rechts, Anstalten und Stiftungen), die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, nicht grundrechtsfähig. Hierzu gehören etwa kommunale Gebietskörperschaften (Länder, Kommunen oder Gemeinden),[12] öffentlich-rechtliche Sparkassen,[13] Innungen nach der Handwerksordnung, gesetzliche Krankenkassen,[14] Rentenversicherungsträger[15] etc.
Beispiel
Die Gemeinde H liegt in der Nähe eines genehmigten Planungsgebiets für Braunkohletagebau in NRW. Der Gemeinderat beschließt, dass sich die Gemeinde zur generellen Gegnerin von Braunkohle als Energiequelle erklärt. Stattdessen will sich die Gemeinde für erneuerbare Energien einsetzen. Die Rechtsaufsichtsbehörde beanstandet den Beschluss des Gemeinderates. H fühlt sich in ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt. Zu Recht? – Eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG kommt nur in Betracht, wenn H Träger von Grundrechten ist. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist H Teil der Exekutive, so dass sie sich nicht auf Grundrechte berufen kann. Sie fühlt sich demnach zu Unrecht in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt.
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Dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind, hat das Bundesverfassungsgericht ursprünglich damit begründet, es sei mit dem Wesen der Grundrechte unvereinbar, wenn die öffentliche Gewalt gleichzeitig Träger und Adressat von Grundrechten sei (sog. Konfusionsargument).[16] Hiergegen ist in der Literatur jedoch eingewendet worden, die öffentliche Gewalt stelle keinen monolithischen Block dar; vielmehr könnten juristische Personen des öffentlichen Rechts in unterschiedlichen Rechtspositionen durchaus Träger einerseits von Rechten und andererseits von Pflichten sein.[17] In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt das Bundesverfassungsgericht zur Begründung