Grundrechte. Daniela Schroeder
verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Verfahren und die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen im Bereich von Qualifikationsentscheidungen, die Voraussetzung für den Zugang zur Stellung eines Hochschullehrers sind (also namentlich die Habilitation), wurden vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des Habilitanden (Art. 12 Abs. 1 GG bzw. im entschiedenen Fall Art. 2 Abs. 1 GG, weil der Betroffene die österreichische Staatsbürgerschaft inne hat) gemessen und durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verstärkt.
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Bei der Schutzbereichsverstärkung handelt es sich „methodisch und im Ergebnis“ um eine „Flexibilisierung der deutschen Grundrechtsdogmatik“.[69] Dogmatisch ist insoweit noch vieles im Unklaren, so z.B. die Voraussetzungen des Bezugs zu einem Grundrecht jenseits eines Eingriffs in seinen Schutzbereich, die Folgen der Berücksichtigung des nur mittelbar einschlägigen Grundrechts.[70] Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur deshalb umstritten und hat sich bislang nicht durchgesetzt.[71]
JURIQ-Klausurtipp
Da das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts zu Modifikationen im Rahmen der Abwägung führt und viele dogmatische Fragen noch ungeklärt sind, wird in der juristischen Ausbildungsliteratur die Anwendung einer Schutzbereichsverstärkung für die Fallbearbeitung ohne Weiteres abgelehnt,[72] zumindest aber „zu größter Vorsicht“ geraten, „auf diese Methodik zurückzugreifen“[73], bzw. empfohlen, „in Zweifelsfällen weiterhin alle Grundrechte einzeln zu prüfen“[74].[75]
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine Schutzbereichsverstärkung durchführt, dürfte ein entsprechendes Vorgehen in einer Prüfungsarbeit nicht ohne Weiteres möglich sein. Die Anwendung der Schutzbereichsverstärkung müsste vielmehr zunächst erläutert, vor allem dogmatisch begründet werden.[76]
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In unserem Beispiel oben (Rn. 128) hatten wir festgestellt, dass der Gesetzgeber von dem Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch gemacht hat und dass das Gesetz daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, wenn es eine verfassungsmäßige, insbesondere verhältnismäßige, Konkretisierung des Regelungsvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Das Gesetz, das das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot für handwerkliche Kleinbetriebe vorsieht, ist formell verfassungsgemäß. Zu prüfen ist, ob das Gesetz auch materiell verfassungsgemäß ist. Fraglich ist, ob das Gesetz verhältnismäßig ist. Das Gesetz hat den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, die Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn zu schützen. Zur Erreichung dieses Zwecks ist das Nachtarbeitsverbot geeignet. Zur Erreichung dieses Zwecks müsste das Nachtarbeitsverbot auch erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn es kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das ist hier zu verneinen, weil die Möglichkeit besteht, anstelle eines gesetzlich normierten ausnahmslosen Nachtarbeitsverbotes ein sog. präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Gesetz vorzusehen. Dies würde bedeuten, dass nächtliches Arbeiten zunächst verboten ist, die zuständige Behörde nach Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände im Einzelfall das Nachtarbeitsverbot (ggf. unter Erteilung von Auflagen) aber erlauben kann. Die Entscheidung über ein Nachtarbeitsverbot würde hierdurch in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt. Dieses Vorgehen würde gewährleisten, dass die widerstreitenden Interessen einerseits des Gewerbetreibenden (u.a. Ausschöpfung seiner wirtschaftlichen Kapazitäten) und andererseits der Nachbarn (Gesundheitsschutz) im Einzelfall zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. So wäre Nachtarbeit zu erlauben, wenn die Nachbarn durch geeignete und zumutbare bauliche Maßnahmen auf dem Betriebsgelände vor den vom Handwerksbetrieb ausgehenden Immissionen geschützt werden (z.B. besondere Lärmdämmung o.Ä.). Damit erweist sich das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot als nicht erforderlich, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das Gesetz ist somit unverhältnismäßig, demnach materiell verfassungswidrig und folglich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. A ist in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. – Hilfsweise unterstellt, das Gesetz ist erforderlich, müsste es angemessen sein. Nach der sog. Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichts (s.u. Rn. 585 ff.) sind Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit angemessen, wenn vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls die Ausübungsregelungen zweckmäßig erscheinen lassen, wobei der Gesetzgeber einen relativ weiten Gestaltungsspielraum besitzt. Das Gesetz bezweckt den Schutz der Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn. Die Nachbarn sollen in ihrer Nachtruhe geschützt werden, die der notwenigen gesundheitlichen Regeneration dient. Permanente nächtliche Beeinträchtigungen der Nachtruhe durch betriebsbedingte Immissionen können das körperliche Wohlbefinden der Nachbarn nicht unerheblich schmälern. Dies sind vernünftige Allgemeinwohlerwägungen, die das Gesetz zweckmäßig erscheinen lassen. Bei unterstellter Erforderlichkeit erweist sich das Gesetz demnach als angemessen. Es ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. A ist somit nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.
cc) insbesondere: Wahrung des Wesensgehalts
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Eine letzte verfassungsrechtliche Grenze für Eingriffe der Legislative in den Schutzbereich eines Grundrechts bildet die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG.[77]
Beispiel
Der Landesgesetzgeber ergänzt sein Polizeigesetz um eine Bestimmung, nach der der Schusswaffengebrauch zulässig ist, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr darstellt. Wird hierdurch der Wesensgehalt i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG des Grundrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet?
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Umstritten ist, wie der Wesensgehalt von Grundrechten zu ermitteln ist. Fest steht, dass der Wesensgehalt für jedes einzelne Grundrecht gesondert bestimmt werden muss.[78] Zur generellen Ermittlung des Wesensgehalts von Grundrechten werden zwei Theorien vertreten: die Theorie vom absoluten Wesensgehalt und die Theorie vom relativen Wesensgehalt.[79]
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Die Theorie vom absoluten Wesensgehalt betrachtet den Wesensgehalt eines Grundrechts als eine feste, vom Einzelfall und von der konkreten Frage unabhängige Größe. Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist demnach ein Grundrechtskern, der unabhängig von der konkreten Fallgestaltung unantastbar ist. Nach dieser Theorie ist es ausgeschlossen, den Wesensgehalt einzelfallbezogen zu ermitteln. In unserem Beispiel oben (Rn. 149) entzieht der Schusswaffengebrauch demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, das Recht auf Leben. Die allgemeine Gewährleistung des Rechts auf Leben wird hierdurch jedoch nicht angetastet. Nach der Theorie vom absoluten Wesensgehalt ist das Grundrecht auf Leben somit nicht verletzt.
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Die von der h.M. vertretene Theorie vom relativen Wesensgehalt ermittelt den Wesensgehalt von Grundrechten, indem sie auf das jeweilige Grundrecht abstellt und den Wesensgehalt für jeden einzelnen Fall gesondert bestimmt. Durch eine Gewichtung und eine Abwägung der im Einzelfall beteiligten öffentlichen und privaten Rechtsgüter und Interessen ermittelt diese Theorie, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet ist. Eine Antastung soll nicht gegeben sein, wenn dem Grundrecht das geringere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage beizumessen ist;[80] umgekehrt ist der Wesensgehalt angetastet, wenn er beeinträchtigt ist, obwohl ihm das größere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage zukommt.
Hinweis
Sie sehen: Mit dieser Vorgehensweise rückt die h.M. in die Nähe der Verhältnismäßigkeitsprüfung.
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