Grundrechte. Daniela Schroeder
Erscheinungsformen grundrechtsrelevanter Eingriffe der Exekutive zu erfassen. Daher hat sich ein neuer Eingriffsbegriff entwickelt.
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Nach dem neuen Eingriffsbegriff bedeutet Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder faktisch, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Dabei muss die erzielte Wirkung einer der öffentlichen Gewalt zuzuordnenden Maßnahme zurechenbar sein.[39]
Ein Vergleich der Definitionen des klassischen Eingriffsbegriffs und des neuen Eingriffsbegriffs zeigt, dass alle vier Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs erweitert wurden. Dies hat zur Folge, dass nunmehr auch z.B. faktische Maßnahmen Eingriffscharakter haben können.
Beispiel
Die Stadt D hat eine neue Kläranlage in Betrieb genommen, sehr zum Leidwesen der Bewohner einer nahe gelegenen Wohnsiedlung. Täglich werden sie durch den Lärm und den Gestank, die von der Anlage ausgehen, belästigt. Einige Bewohner leiden bereits unter Schlafstörungen, Übelkeit etc. – Die Stadt D könnte durch das Betreiben der Kläranlage das Grundrecht der Bewohner auf körperliche Unversehrtheit verletzen. Dann müsste ein Eingriff in den eröffneten Schutzbereich dieses Freiheitsrechts vorliegen. Dies bedarf näherer Prüfung, denn ein Eingriff nach dem klassischen Begriffsverständnis liegt ersichtlich nicht vor. Vielmehr erzielt D mit dem Betrieb der Kläranlage eine Wirkung bei den Bewohnern, die sie überhaupt nicht beabsichtigt, die sich aber gleichwohl so negativ auf das Grundrecht der Bewohner aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auswirkt, dass sie einem Grundrechtseingriff gleichsteht.
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Schwieriger zu beurteilen ist die Frage nach dem Vorliegen eines Eingriffs bei mittelbaren Eingriffen. Kennzeichnend für diese ist, dass die öffentliche Gewalt eine bestimmte (belastende oder begünstigende) Maßnahme gegen einen bestimmten Adressaten richtet, die beeinträchtigende Wirkung jedoch nicht bei diesem, sondern bei einem Dritten eintritt.
Beispiel[40]
Die Bundesregierung informiert das Parlament und die Öffentlichkeit über die Osho-Bewegung, die ihr angehörenden Gruppierungen sowie ihre Ziele und Aktivitäten. Dabei bezeichnet sie die Osho-Bewegung u.a. als „Psychosekte“, die „destruktiv“ und „pseudoreligiös“ agiere. – Die Informationstätigkeit der Bundesregierung richtet sich an das Parlament und die Öffentlichkeit und beeinträchtigt das Wirken der Osho-Bewegung.
c) Besonderheit: Grundrechte mit normgeprägtem Schutzbereich und Grundrechte unter Regelungsvorbehalt
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Vom Eingriff im gerade behandelten Sinne zu unterscheiden sind zunächst Ausgestaltungen oder Konkretisierungen der Schutzbereiche von Grundrechten durch den Gesetzgeber. In diesen Fällen will der Gesetzgeber nicht ein grundrechtlich geschütztes Verhalten unterbinden; im Gegenteil, er will Verhaltensmöglichkeiten eröffnen, damit der Einzelne das Grundrecht überhaupt erst ausüben kann. Schutzbereiche von Grundrechten, die einer solchen gesetzlichen Ausgestaltung und Konkretisierung bedürfen, nennt man sog. normgeprägte Schutzbereiche.[41]
Beispiel
Erst durch den Gesetzgeber wird aus einem Zusammenleben von Mann und Frau die Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) und zusammen mit Kindern die Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus einem Haben Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG).
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Bei den normgeprägten Grundrechten ist problematisch, dass sie einerseits auf Ausgestaltung angelegt sind, damit der Einzelne von ihnen Gebrauch machen kann, und andererseits die öffentliche Gewalt verpflichten, die Ausgestaltungen vorzunehmen. Die gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechts kann allerdings nicht bedeuten, dass der Gesetzgeber über das Grundrecht verfügen darf. Wenn der Gesetzgeber Grundrechte ausgestaltet, muss er sich vielmehr an den Grundrechten messen lassen. Eine gesetzgeberische Regelung, die „mit der Tradition bricht“, ist grundsätzlich keine Ausgestaltung des Schutzbereichs, sondern wie ein Eingriff in den Schutzbereich zu behandeln.[42]
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Außerdem gibt es Grundrechte, bei denen der Gesetzgeber berechtigt oder verpflichtet ist, das Grundrecht durch nähere Regelung auszugestalten (sog. Grundrechte unter Regelungsvorbehalt). Solche Grundrechte erkennen Sie bereits an ihrem Wortlaut, denn bei ihnen heißt es, das Nähere werde durch ein Gesetz bestimmt oder geregelt (z.B. Art. 4 Abs. 3 S. 2, Art. 12a Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG). Bei den Grundrechten unter Regelungsvorbehalt darf der Gesetzgeber den Grundrechtsgehalt als solchen nicht verändern, insbesondere nicht verkürzen; er darf die grundrechtlichen Gewährleistungen aber durch Modalitäten, Formen und Verfahren handhabbar machen.[43]
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Solange die grundrechtlichen Gewährleistungen nicht geschmälert werden, stellen die gesetzlichen Konkretisierungen des Schutzbereichs eines unter Regelungsvorbehalt stehenden Grundrechts keinen Eingriff dar.[44] Für den prüfungsrelevanten Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG nimmt die überwiegende Ansicht, zu der auch das Bundesverfassungsgericht gehört, jedenfalls an, dass es sich hierbei um einen Gesetzesvorbehalt handelt.[45]
Beispiel
Der deutsche Staatsangehörige A betreibt seit Jahrzehnten eine Schmiede in einem dicht besiedelten Wohngebiet. Kürzlich hat er leistungsstärkere Maschinen erworben, die nicht mehr nur – wie bisher – tagsüber, sondern auch nachts laufen sollen. – Zum Schutz der Gesundheit von Nachbarn, die von immissionsträchtigen Handwerksbetrieben betroffen sind, erlässt der Gesetzgeber einige Zeit später ein seit längerem geplantes Gesetz, nach dem das Arbeiten in Handwerksbetrieben zwischen 22 Uhr und 5 Uhr ausnahmslos untersagt ist. A ist mit dieser Regelung nicht einverstanden. – Im hier interessierenden Sachzusammenhang soll allein das Grundrecht des A auf Berufsfreiheit behandelt werden. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG ist eröffnet, denn A ist Deutscher i.S.d. Art. 116 Abs. 1 GG und übt einen Beruf i.S.d. Art. 12 Abs. 1 GG aus. Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG sieht nun vor, dass die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden kann. Von dieser Befugnis hat der Gesetzgeber Gebrauch gemacht. Auch bei der Ausgestaltung von Grundrechten durch nähere gesetzliche Regelung unterliegt der Gesetzgeber verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das Gesetz ist daher (nur dann) verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn es eine verfassungsmäßige, insbesondere verhältnismäßige, Konkretisierung des Regelungsvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG darstellt.
JURIQ-Klausurtipp
Sie sehen: Trotz dogmatischer Besonderheiten dürften die Grundrechte unter Regelungsvorbehalt (ebenso wie die Grundrechte mit normgeprägtem Schutzbereich) in der Fallbearbeitung wie Grundrechte unter Eingriffsvorbehalt geprüft werden.
2. Grundrechtsverzicht
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Ein Eingriff gleich welcher Art liegt nicht vor, wenn der Grundrechtsberechtigte im konkreten Fall wirksam auf sein Grundrecht verzichtet hat. Während früher angenommen wurde, auf Grundrechte könne nicht verzichtet werden, wird heute differenziert argumentiert, weil der Verzicht auf die Ausübung eines Grundrechts als eine besondere Form des Freiheitsgebrauchs angesehen werden kann.[46]
Beispiel
M hat ihre Zusage erhalten, Richterin in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu werden.