Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › I. Die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit
I. Die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit
Vgl. Hinweise im Beitrag von Horst Dreier, § 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland, im ersten Band.
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Die Hinwendung Deutschlands zu einer Staats- und Verfassungsordnung, die durch das Friedensziel und eine beispiellose Bereitschaft zur Integration in die internationale Staatengemeinschaft geprägt sein sollte, erfolgte nach einer historischen Zäsur, wie sie tiefer nicht sein konnte. Bereits im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, der vom 10. bis 23. August 1948 tagte, wurden die Grundlagen für die anschließend vom Parlamentarischen Rat getroffene Grundentscheidung für eine „offene Staatlichkeit“ geschaffen. Der Parlamentarische Rat, der sich aus insgesamt 77 Repräsentanten der Länder der drei westlichen Besatzungszonen zusammensetzte, konnte freilich nur eine Verfassung für einen Teil Deutschlands, ein „Grundgesetz“ für die spätere Bundesrepublik Deutschland, beraten und am 8. Mai 1949 verabschieden.[1] Parallel zur Ausarbeitung des Bonner Grundgesetzes fand in der Sowjetischen Besatzungszone ein verfassunggebender Prozess statt,[2] der in die Verabschiedung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik mündete.[3] Darin manifestierte sich über 40 Jahre die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten, bis das Grundgesetz am 3. Oktober 1990 auch in den ostdeutschen Ländern in Kraft trat,[4] deren (Wieder-)Einführung nach dem Sturz des sozialistischen Regimes in der DDR noch von der Volkskammer beschlossen wurde.[5]
1. Die Idee der europäischen Einigung
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In der historischen Rückschau erscheint es erstaunlich, wie stark die Idee der europäischen Einigung die Arbeiten zum Grundgesetz bestimmte. So wie die Verankerung der Menschenwürde und der Grundrechte an der Spitze des Verfassungstextes eine Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus war, so sollte die Integrationsbereitschaft des zu reorganisierenden deutschen Staates[6] den Kontrapunkt zu dem für den Zweiten Weltkrieg verantwortlichen nationalen Hegemonialstreben bilden und eine Rückkehr in die Gemeinschaft friedliebender Staaten ermöglichen.
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Die Idee der Einigung der europäischen Staaten bzw. der Integration der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt wurde freilich nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sieht man von ferneren Vorläufern in der politischen Ideengeschichte[7] ab, so waren es vor allem Pläne und Konzepte aus der Zwischenkriegszeit und aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die die Vorstellungen der Mitglieder des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rates beeinflussten. Unter den Initiativen, die zahlreiche maßgebliche Politiker in ihren Bann zogen, ragt die Gründung der Paneuropa-Union durch Richard Coudenhove-Kalergi im Jahr 1922 hervor. Mit ihr wird seitdem das Ziel einer – nach mehreren Integrationsstufen zu erreichenden – Schaffung von „Vereinigten Staaten von Europa“ verfolgt.[8] Unter den deutschen Autoren, die sich früh mit Fragen der Staatenintegration befassten, ist etwa Arnold Bergsträsser zu nennen, der im Jahre 1930 sein Buch „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen“ veröffentlichte. Hierin sah er ähnlich wie später Jean Monnet[9] und Luigi Einaudi[10] das wirtschaftliche Element als treibende Kraft für eine Integration Europas.[11] Während des Zweiten Weltkriegs wurden insbesondere von Exilregierungen sowie Kreisen des Widerstandes gegen den italienischen Faschismus und gegen das nationalsozialistische Regime Pläne für eine auf Staatenintegration aufbauende Nachkriegsordnung Europas entwickelt.[12] So entwarf die polnische Exilregierung unter General Sikorski Pläne für eine polnisch-tschechoslowakische Föderation, die auch anderen mittel- und osteuropäischen Staaten zum Beitritt offen stehen sollte.[13] Im Westen waren es insbesondere der Belgier Paul-Henri Spaak und ab 1943 auch der französische General de Gaulle, die aus dem Exil Pläne für eine regionale Föderation im Westen unterstützten. Auf französischer Seite trat Jean Monnet früh dafür ein, dass eine europäische Föderation vordringlich die Schwerindustrie als Schlüsselindustrie der Kriegswirtschaft unter die Leitung einer internationalen Behörde stellen müsse.[14] Im deutschen Widerstand bekannte sich auf Seite der Konservativen vor allem der 1945 in Plötzensee hingerichtete Karl Friedrich Goerdeler zu einem „Zusammenschluss der europäischen Völker“, „in dem weder Deutschland noch eine andere Macht Vorherrschaft beansprucht“.[15] Im Jahre 1943 verabschiedete die „Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten in Stockholm“, der unter anderem Gunnar Myrdal, Willy Brandt und Bruno Kreisky angehörten, ein Friedensprogramm mit der Forderung nach einem „Neuen Völkerbund“ und einer „Regionalen Föderation“ in Europa, wobei sie eine Zusammenarbeit „zwischen der Sowjetunion und den angelsächsischen Demokratien“ für notwendig hielten.[16]
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Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten die Bestrebungen eines föderalen Zusammenschlusses der europäischen Staaten eine große Dynamik.[17] Im Juni 1948 legte der französische Christdemokrat François de Menthon im Auftrag der Europäischen Parlamentarier-Union den Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa vor; im November 1948 verabschiedete die Union europäischer Föderalisten in Rom den „Vorentwurf einer europäischen Verfassung“.[18]
2. Die Beratungen im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat
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Im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn waren es verschiedene Beweggründe, aus denen die Integrationsbereitschaft Deutschlands in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht und durch operationale Bestimmungen im Haupttext ergänzt werden sollte. Die Befürworter einte die Einsicht, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur durch eine Integration der europäischen Staaten zu erreichen wäre. Neben den überzeugten Europäern, zu denen etwa Konrad Adenauer, Carlo Schmid und Wilhelm Heile gehörten,[19] gab es auch Mitglieder, die für die Öffnung nach Europa votierten, da sie darin den einzigen Weg sahen, auf dem Deutschland wieder Wohlstand erlangen und als „voll souveräne[r] Staat in die europäische Völkergemeinschaft“[20] zurückkehren könnte.[21] Es gab in diesem Sinne durchaus auch eine politisch und wirtschaftlich interessengeleitete „Flucht nach Europa“.[22] Im Übrigen traten im Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat die auch die weitere Entwicklung prägenden unterschiedlichen Vorstellungen über die europäische Nachkriegsordnung zutage. Während nach einer Auffassung sich Europa als dritte Kraft zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten etablieren sollte, betonte eine andere Strömung die atlantische Verbindung zu den USA. Die stärkere Westbindung verstärkte freilich den Gegensatz zur Sowjetunion, so dass die Gegner dieser Politik geltend machten, dass dadurch zugleich die dauerhafte Spaltung Deutschlands immer wahrscheinlicher werde. Konkrete Konzepte für eine Einigung Europas traten im Übrigen bei den Beratungen zum Grundgesetz nicht zutage. In jedem Falle reichten die Vorstellungen über die auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Juni 1948 geforderten Grundsätze, nach denen Deutschland jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht mit den anderen Staaten Westeuropas verbunden sein sollte,[23] hinaus. Die Debatten im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat widerlegen daher auch in dieser Hinsicht die These, dass die im Grundgesetz getroffene Entscheidung für eine offene Staatlichkeit letztlich von den westlichen Alliierten erzwungen worden sei.
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Die Deutlichkeit, mit der im Ergebnis das Grundgesetz die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit zum Ausdruck brachte, war auch gemessen am Maßstab der Verfassungsentwicklung in den anderen europäischen