Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
Diese Bestimmung bringt zwar gegenüber der entsprechenden Bestimmung der Weimarer Verfassung[24] eine Aufwertung des Völkerrechts, bewegt sich jedoch noch in traditionellen Bahnen. Einen neuen Ansatz enthält indes Art. 24 GG, der erstmals die Möglichkeit einräumt, „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen“.
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Allerdings hatte bereits die französische Verfassung von 1946 in ihrer Präambel einen ersten Schritt hin zur Öffnung und zur Bereitschaft zum Verzicht auf Souveränitätsrechte auf der Basis der Gegenseitigkeit getan. In der Präambel[25] heißt es: „Sous réserve de réciprocité, la France consent aux limitations de souveraineté nécessaires à l’organisation et à la défense de la Paix“. Eine ähnliche Regelung wurde bald darauf in die italienische Verfassung von 1947 aufgenommen.[26] Beide Verfassunggeber hatten dabei auch die Gründung der Vereinten Nationen und die Schaffung möglicher weiterer Systeme kollektiver Sicherheit im Blick.
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Die Gewährleistung eines dauerhaften Friedens, gleichsam in Weiterentwicklung des Leitmotivs des Westfälischen Friedens,[27] war Ziel aller Integrationsbestrebungen. Dies galt in besonderem Maße auch für die Beratungen zum Grundgesetz, wo bereits der Entwurf des Unterausschusses I des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee einen Integrationsartikel (Art. D) vorsah, der dem späteren Art. 24 des Grundgesetzes sehr nahe kam.[28]
Art. D des ursprünglichen Entwurfs(August 1948): | Art. 24 des Grundgesetzes(endgültige Fassung vom 23. Mai 1949): |
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(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. | (1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. |
(2) Insbesondere kann er im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens sein Gebiet in ein System kollektiver Sicherheit einordnen und hierbei, unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit, in diejenigen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, durch die eine friedliche und dauerhafte Ordnung der europäischen Verhältnisse erreicht und sichergestellt werden kann. | (2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. |
(3) Ein solches Gesetz bedarf in Bundesrat und Bundestag einer Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl. | (3) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten. |
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Während Abs. 2 des Art. D (später Art. 24) mit der Möglichkeit einer reziproken Beschränkung von Hoheitsrechten die Vorbilder der französischen und der italienischen Verfassung aufgreift, geht Abs. 1 mit der Option einer Übertragung von Hoheitsrechten erheblich darüber hinaus und wird so zum nachdrücklichsten Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“, wie die Integrationsbereitschaft später apostrophiert wurde. Mit der weitgehenden Öffnungsklausel sollte „nach den Dingen, die im Namen des deutschen Volkes geschehen sind“, eine „Vorleistung“ erbracht[29] werden, die, wie ein Redner formulierte, zugleich eine „sehr schöne Antwort“ sei „auf das, was die französische Republik in der Präambel ihrer neuen Verfassung sagt“.[30]
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Wenngleich die Vorstellungen über die Gestalt des in der Präambel des Grundgesetzes angesprochenen „vereinten Europas“ eher diffus blieben,[31] wurden die bei Integrationsentscheidungen einzuhaltenden Verfahrensregeln eingehend diskutiert. Gegen Integrationsentscheidungen durch einfaches Gesetz wurde geltend gemacht, dass es dabei um eine besonders wichtige Frage gehe, so dass ein verfassungsänderndes Gesetz,[32] im Hinblick auf die betroffenen Länderinteressen jedenfalls aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat[33] zu fordern sei. Dieser Forderung wurde entgegengehalten, dass damit der Integrationsklausel die „Pointe“ genommen würde, da eine Integration durch Verfassungsänderung immer möglich sei.[34] Die Entscheidung über die Integrationsbereitschaft solle eindeutig im Grundgesetz selbst getroffen werden.[35] Aus denselben Erwägungen wurden letztlich auch die im ursprünglichen Entwurfstext vorgesehene Anforderung einer Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl in Bundestag und Bundesrat sowie das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrats verworfen.
3. Grundsätzliche verfassungsrechtsdogmatische Einordnung der Integrationsklausel des Art. 24 Abs. 1 GG
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Die Integrationsklausel des Art. 24 Abs. 1 GG war bald, insbesondere nach den ersten Schritten der europäischen Einigung, Gegenstand verfassungsrechtsdogmatischer Erörterungen und Einordnungen. Rasch setzte sich die Einsicht durch, dass die „Übertragung“ von Hoheitsrechten nicht so verstanden werden kann, dass der zwischenstaatlichen Einrichtung jeweils ein Ausschnitt aus der nationalen Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten übertragen wird, sondern dass durch die „Übertragung“ auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags eine einheitliche Hoheitsgewalt neuer Qualität geschaffen wird, für die die Vertragsstaaten ihre innerstaatliche Kompetenzsphäre, ihren „Souveränitätspanzer“[36], öffnen.[37] In diesem Sinne wird die Befugnis der zwischenstaatlichen Einrichtung, durch Rechtsakte die staatlichen Organe und die Bürger unmittelbar zu verpflichten, der sog. „Durchgriffseffekt“, als entscheidendes Merkmal für die Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG angesehen.[38]
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Die Öffnung der innerstaatlichen Kompetenzsphäre, die Permeabilität des Staates, hat Klaus Vogel prägend als „offene Staatlichkeit“ charakterisiert.[39] Bezogen auf die dadurch eröffnete Möglichkeit der Einordnung Deutschlands in eine supranationale Gemeinschaft, deren Recht Vorrang gegenüber dem nationalen Recht beansprucht, sprach Hans Peter Ipsen von Art. 24 Abs. 1 GG als „Integrationshebel“.[40] Das spanische Verfassungsgericht sollte später im Hinblick auf die vergleichbare Bestimmung des Art. 93 der spanischen Verfassung von 1978 von einem „Scharnier“ (bisagra) sprechen.[41] Bewusst war den meisten Autoren von Anfang an, dass mit jeder Übertragung von Hoheitsrechten eine materielle Verfassungsänderung einhergeht.[42] Art. 24 Abs. 1 GG wird in diesem Sinne nicht nur eine auch die Kompetenzsphäre der Länder einbeziehende Integrationskompetenz des Bundes entnommen, sondern auch eine Sonderregelung im Verhältnis zu Art. 79 GG, der für eine Grundgesetzänderung eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat vorsieht. Indem Art. 24 Abs. 1 GG regelt, dass nur ein einfaches Bundesgesetz erforderlich ist, trifft er hingegen keine Bestimmung darüber, ob im konkreten Fall die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist oder ob es sich um ein Einspruchsgesetz handelt. Diese Frage richtet sich, soweit es nicht um die Hoheitsübertragung als solche geht, nach Art. 59 Abs. 2 GG, also danach, ob sich der Integrationsvertrag auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, die eine Zustimmungspflicht auslösen oder nicht. Die bloße Tatsache, dass ein Integrationsvertrag Hoheitsrechte der Länder berührt, hat eine Zustimmungsbedürftigkeit nicht zur Folge.[43]
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Daraus, dass Art. 24 Abs. 1 GG dem Bund die Möglichkeit eröffnet, Hoheitsrechte zu übertragen, folgt nicht die Verpflichtung, dies bei jeder Gelegenheit zu tun. Allerdings hat man unter Berücksichtigung des Zusammenhangs mit den Vorschriften der Art. 24 bis 26 GG den „Willen“ des Grundgesetzes zu erkennen gemeint, „den Bund und seine Organe zu einer aktiven Politik und Gesetzgebung in der Richtung auf solch eine ‚offene‘ Staatlichkeit zu verpflichten“.[44] Demgegenüber wurde zu Recht zur Zurückhaltung gemahnt.[45] Jedenfalls kann aus der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG nicht eine Staatszielbestimmung abgeleitet werden, die einen rechtlichen Maßstab für Integrationsentscheidungen liefert. Hingegen sind der Präambel