Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
zwischen nationaler und unionaler Ebene weiterhin auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.[106]
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Die Aussage, dass Art. 23 GG nicht zur Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat ermächtigt, bedeutet nicht, dass ein solches Ziel nicht durch Verfassungsänderung zu erreichen wäre. Allerdings ist in der deutschen Staatsrechtslehre streitig, ob in diesem Falle die Verfassungsänderungsschranke des Art. 79 Abs. 3 GG, der auf die Grundsätze des Art. 20 GG verweist, greifen würde. Soweit man in Art. 20 Abs. 1 GG („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) oder in Art. 20 Abs. 2 GG (Prinzip der Volkssouveränität) eine Garantie der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im völkerrechtlichen Sinne erblickt, wäre in der Tat für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes ein solcher Schritt ausgeschlossen. Nach zutreffender Ansicht ist indes ein Fortbestand der Bundesrepublik Deutschland mit ihren zwei staatlichen Ebenen auch in einem europäischen Bundesstaat denkbar. Jedenfalls im staatsrechtlichen Sinne bliebe die Bundesrepublik auch als zweite Ebene in einem dreigliedrigen Staatsgebilde Staat, solange ihr in der bundesstaatlichen Ordnung substanzielle Kompetenzen im Bereich der Legislative, der Exekutive und der Judikative verblieben. Vergleichbar wird den deutschen Ländern Staatsqualität im staatsrechtlichen Sinne zugeschrieben.[107]
bb) Inhaltliche Steuerung des Integrationsprozesses und Struktursicherung
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Während Art. 23 Abs. 1 GG einerseits den Weg zur Mitwirkung an einer politischen Integration Europas öffnet, schränkt er andererseits die Integrationsmöglichkeiten durch inhaltliche Vorgaben für die Gestaltung der Europäischen Union ein.
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Die in Art. 23 Abs. 1 GG statuierten inhaltlichen Direktiven für eine Beteiligung der Bundesrepublik an weiteren Integrationsschritten sind freilich keine unbekannten Beschränkungen, sondern positivieren im Wesentlichen die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie das verfassungsrechtliche Schrifttum herausgearbeiteten verfassungsimmanenten Begrenzungen. Die Verpflichtung der deutschen Staatsorgane, nur an einer Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, die „einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, knüpft erkennbar an die Solange I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[108] an.
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Zum verfassungsrechtlichen Essentiale des Grundgesetzes zählen auch die in Art. 20 verankerten Prinzipien. An sie anknüpfend fordert Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die Weiterentwicklung einer Union, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ verpflichtet ist. Die Verpflichtung auf demokratische Grundsätze ist insbesondere im Lichte des Monitums des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren, die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament müsse „schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden“ und dem Deutschen Bundestag müssten angesichts der Tatsache, dass der EU über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation vermittelt werde, „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“.[109] Zum Kern der rechtsstaatlichen Prinzipien zählen neben den Freiheitsrechten das Recht auf effektiven Rechtsschutz sowie die Gewaltenteilung, die Rechtsbindung der Verwaltung und die Rechtssicherheit.[110] Bei den „sozialen Grundsätzen“ stehen die soziale Sicherheit und die Förderung der Chancengleichheit im Vordergrund.[111]
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Einigkeit herrscht dabei, dass die genannten Grundsätze nicht eine strukturelle Kongruenz oder Homogenität fordern,[112] sondern dass es nur darum gehen kann, funktional vergleichbare Ziele und Strukturen auf der Unionsebene sicherzustellen.[113] Insbesondere kann die Verpflichtung auf föderative Grundsätze nicht bedeuten, das deutsche Bundesstaatsmodell auf die EU zu übertragen. Es geht vielmehr darum, die Vielfalt in der Einheit, die vertikale Gliederung und damit Gewaltenteilung als Bauprinzip der Union zu wahren und weiterzuentwickeln. Betrachtet man die bisherige Entwicklung des primären Gemeinschaftsrechts, insbesondere die vom EuGH herausgearbeiteten allgemeinen Rechtsgrundsätze und Prinzipienbestimmungen wie Art. 6 Abs. 1 EU, so findet man nicht nur eine funktionale Vergleichbarkeit, sondern sogar eine weitgehende Kongruenz der maßgeblichen Prinzipien des deutschen Rechts einerseits und des Gemeinschaftsrechts andererseits.[114] An prominenter Stelle sind die mittlerweile zum europäischen Gemeingut zählenden Werte bzw. Verfassungsgrundsätze im Europäischen Verfassungsvertrag niedergelegt,[115] was das spanische Verfassungsgericht zu der Feststellung veranlasst hat, dass damit den von verschiedenen Verfassungsgerichten erklärten inhaltlichen Integrationsvorbehalten in vollem Umfang Rechnung getragen werde.[116]
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Erstmals im Grundgesetz erwähnt findet sich der Grundsatz der Subsidiarität. Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Verpflichtung der Integrationsgewalt auf diesen Grundsatz wird zum einen eine Richtschnur für die Regelung der Kompetenzverteilung von der supranationalen bis zur kommunalen Ebene in den zu verhandelnden neuen Integrationsverträgen gegeben, zum anderen eine Direktive für die vertraglich vorzusehende Kompetenzausübung der Union[117] und damit zugleich der insbesondere auf Betreiben Deutschlands in das Primärrecht eingeführte Subsidiaritätsgrundsatz[118] als aus deutscher Sicht unverzichtbarer acquis festgeschrieben.[119]
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Die so genannte „Struktursicherungsklausel“ des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zielt in erster Linie darauf, eine Kompatibilität der grundlegenden Verfassungsprinzipien auf Unionsebene und auf der Ebene des deutschen Verfassungsrechts zu gewährleisten. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG erklärt darüber hinaus den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungskern für integrationsfest. Hat die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die positive Gestaltung der Verfassungsordnung der EU im Blick, so steht bei der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die Abwehr von Verletzungen der nationalen Verfassungssubstanz im Vordergrund. Funktional dient dabei die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bewirkte indirekte Steuerung der Verfassungsentwicklung auf Unionsebene der Vermeidung von Konflikten, für die die absolute Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG relevant werden könnte. Der Sache nach wird insoweit auch den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Integrationsschranken Rechnung getragen.
cc) Prozedurale Steuerung, insbesondere Föderalisierung der deutschen Integrationsgewalt
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Art. 23 GG soll ausweislich der Entstehungsgeschichte nicht zuletzt eine „Verschiebung der innerstaatlichen Gewichte zwischen Bund und Ländern“ verhindern, indem „die deutschen Mitwirkungs- und Wahrnehmungsrechte in Europa entsprechend der [...] Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern verteilt werden“.[120] Eine Stärkung der Position der Länder bedeutet es zunächst, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU, anders als bei Art. 24 GG, nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG stets der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Bei Verträgen grundgesetzändernden Inhalts soll sogar das Verfahren der Verfassungsänderung gelten (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.Vm. Art. 79 Abs. 2 GG), so dass das Zustimmungsgesetz eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat benötigt. Damit die Grundregel des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (einfaches Zustimmungsgesetz) nicht leer läuft, ist Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG so zu verstehen, dass nicht jede Hoheitsübertragung, sondern nur solche von einigem Gewicht das Erfordernis verfassungsändernder Mehrheiten auslöst.[121] Freilich bleibt bei dieser Auslegung eine Zone der Unsicherheit, die im Falle eines fehlenden Konsenses der tragenden politischen Kräfte zusätzliches Konfliktpotential birgt.
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Abgesehen von der Beteiligung des Bundesrats bei der Verabschiedung der Vertragsgesetze zielt die Verankerung von Unterrichtungs- und Beteiligungsrechten des Bundesrates bei der Willensbildung in Angelegenheiten der EU auf eine prozedurale Effektivierung einer gebührenden Berücksichtigung der Belange der Länder. Die in den Absätzen 4 bis 6 geregelten Beteiligungsverfahren, die durch ein Ausführungsgesetz weiter konkretisiert