Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
werden, falls es von Bestimmungen des geschriebenen Völkerrechts abweicht. Das Völkerrecht bildet somit einen Bestandteil des niederländischen „Verfassungsrahmens“ im weitesten Sinne des Wortes und nimmt einen höheren Rang ein als das geschriebene Verfassungsrecht der Niederlande. Bislang sind die niederländischen Gerichte gemäß Art. 120 Grondwet nicht berechtigt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen zu prüfen.[10] Die Verfassungsmäßigkeit wird jedoch nach einer auf Art. 93 und 94 Grondwet basierenden Meinung dadurch gewährleistet, dass das niederländische Recht und das Völkerrecht übereinstimmend ausgelegt und letzterem im Falle von voneinander abweichenden Bestimmungen Vorrang eingeräumt wird. Die Art. 93 und 94 Grondwet garantieren somit die Offenheit der niederländischen Rechtsordnung. Daher vertreten einige Autoren die Auffassung, dass diese Bestimmungen nicht so ausgelegt werden sollten, als würden sie den strengen Monismus der niederländischen Rechtsordnung durchbrechen. Dieser Ansicht zufolge haben die niederländischen Gerichte das Völkerrecht als festen Bestandteil des niederländischen Rechts zu betrachten. Durch die Einheit von niederländischem Recht und Völkerrecht würden sogar die Art. 93 und 94 Grondwet erst richtig zur Geltung kommen. In der Rechtsprechung der niederländischen Gerichte finden sich in der Tat einige Anhaltspunkte für diese Ansicht. Während der Fall Grenstractaat Aken aus dem Jahre 1919 bereits in diese Richtung wies, scheint eine Richtlinie aus jüngerer Zeit (2004) der Abteilung für Verwaltungsrecht des Staatrats diese Ansicht dadurch zu bestätigen, dass sie die Befugnis der niederländischen Gerichte zur Anwendung von völkerrechtlichen (Umwelt-) Bestimmungen unter anderem auf die Art. 93 und 94 Grondwet zurückführt.[11] Dadurch würde die allgemeine Unterscheidung zwischen dem Völkerrecht und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, was die Frage nach ihrem Geltungsgrund in der niederländischen Rechtsordnung betrifft, hinfällig.[12]
2. Die Haltung der Niederländer gegenüber der Europäischen Union
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Es lag stets im niederländischen wie im europäischen Interesse, dass die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften/Union eine starke Stellung einnehmen.[13] Einerseits bringen Europa und dessen Binnenmarkt nach allgemeiner Auffassung Vorteile für den Handel und folglich auch für die niederländische Volkswirtschaft. Andererseits wird die Europäische Union aber auch zunehmend als eine riesige bürokratische und verschwenderische Organisation wahrgenommen, welche immer stärkeren Einfluss auf die Politik der Niederlande sowie ihre Gesetze und Rechtsverordnungen ausübt.
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Ein starkes Europa erfordert jedoch nach Auffassung der niederländischen Regierung sowie des Parlaments nicht per definitionem die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene. Die europäischen Institutionen müssten jedoch in die Lage versetzt werden, schnell und effektiv zu handeln, und auf diese Weise den in sie gesetzten Erwartungen gerecht werden. Dies ist auch für den Rückhalt der EU in der Bevölkerung wichtig, da nach Ansicht der Regierung die Legitimität der EU auf der Fähigkeit zu effektivem Handeln beruht.[14]
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Die Regierung der Niederlande betrachtet die EU zunehmend auch als einen unverzichtbaren Rahmen zur Durchführung von Maßnahmen der Regierungen in den Mitgliedstaaten. Sie sei keine Organisation, welche die niederländische Regierung ersetzt, sondern vielmehr deren ergänzende und notwendige Erweiterung. Es ist daher notwendig, dass das europäische Rahmenwerk einen ausreichenden Grundrechtsschutz, transparente Entscheidungsprozesse und eine Begrenzung der Macht auf der Grundlage der Gewaltenteilung gewährleistet.[15] Folglich muss mit Hilfe starker und wirkungsvoller Kontrollmechanismen auf dem Gebiet des Rechts, der Wirtschaft und der Politik eine beherrschende Stellung einzelner Mitgliedstaaten oder deren Interessen verhindert werden.
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Nach Auffassung der Regierung hat die Gemeinschaftsmethode, der zufolge die Kommission, der Rat sowie das Europäische Parlament gemeinsam handeln, ihre Effektivität in der Vergangenheit unter Beweis gestellt. Durch sie wird die Transparenz der Entscheidungsprozesse in hohem Maße gewährleistet, wenngleich in dieser Beziehung noch Verbesserungen möglich sind. Die Gemeinschaftsmethode gewährleistet zugleich eine konsistente Politik, die meist auf einem sorgfältigen Interessenausgleich beruht, weil die Kommission auf verschiedenen Stufen des Entscheidungsprozesses Konsultationsmechanismen einsetzt. Außerdem bietet die Gemeinschaftsmethode – mit einer starken Stellung der Kommission, einem rechtlich geregelten Mächtegleichgewicht und dem Grundsatz der Staatengleichheit – im Vergleich zur zwischenstaatlichen Methode eine bessere Sicherung gegen Machtmissbrauch.[16]
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Die Europäische Union hat sich in der Vergangenheit in einem beeindruckenden und bedeutenden Maße weiterentwickelt. Hoheitsrechte sind von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen worden. Eigentlich waren verfassungsrechtliche Konflikte zu erwarten – nicht aber im Fall der Niederlande. Die Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten wurde bereits im Jahre 1953 geschaffen. In jenem Jahr wurde die niederländische Verfassung durch einen neuen Art. 92 Grondwet ergänzt. Auf der Grundlage dieser Bestimmung können Befugnisse im Bereich der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf völkerrechtliche Organisationen übertragen werden. Nachdem der Gründungsvertrag einer völkerrechtlichen Organisation angenommen ist, erhalten die Beschlüsse, welche nach dem Willen der Organisation für die Parteien verbindlich sein sollen, soweit dies vom Gründungsvertrag vorgesehen ist, unmittelbare Geltung in der niederländischen Rechtsordnung.[17] Art. 92 Grondwet gilt nicht nur für bestimmte Arten von völkerrechtlichen Organisationen.[18] Mit seiner Einführung sollte jedoch hauptsächlich die Möglichkeit geschaffen werden, Hoheitsrechte auf die Europäischen Gemeinschaften zur Förderung der europäischen Integration zu übertragen. Das Parlament erklärte sogar in dem Annahmeverfahren zu den Verfassungsänderungen im Jahre 1983, dass diese Verfassungsbestimmung so auszulegen ist, dass sie den europäischen Integrationsprozess nicht erschwert.[19]
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande › II. Die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union
1. Das besondere verfassungsrechtliche Verhältnis zum Europarecht
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Da in der niederländischen Verfassung ausdrücklich weder auf die Europäische Union noch auf die Europäische Gemeinschaft Bezug genommen wird, sind die allgemeinen Prinzipien der innerstaatlichen Geltung und der unmittelbaren Wirkung des Völkerrechts anwendbar. Viele Verfassungsrechtsexperten sind jedoch der Ansicht, dass die Besonderheiten des Europarechts in der niederländischen Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es lässt sich schließlich nicht bestreiten, dass das Europarecht auf noch nie da gewesene Weise die niederländische Rechtsordnung beeinflusst und die EG sowie die EU folglich nicht mit anderen internationalen Organisationen vergleichbar sind. Dennoch bezieht sich Art. 90 Grondwet ausdrücklich nur auf die „Völkerrechtsordnung“, wodurch die Tatsache zu kurz kommt, dass die Europäische Union „eine eigenständige Rechtsordnung“[20] bildet, durch welche die niederländische Rechtsordnung in vielen Fällen verdrängt wird.
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Da in der niederländischen Verfassung jeglicher Bezug zum Europarecht fehlt, stellt sich die Frage, ob dessen Geltung in der niederländischen Rechtsordnung auf die in den einschlägigen Verfassungsbestimmungen (insbesondere Art. 93 und 94 Grondwet) enthaltenen allgemeinen Prinzipien oder auf das Recht der EU/EG selbst zurückzuführen ist.[21] In der Diskussion wurde zur Begründung der ersten Ansicht darauf hingewiesen, dass diese Verfassungsbestimmungen schon im Hinblick auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen in die niederländische Verfassung aufgenommen wurden, und zwar einschließlich