Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
unterscheidet. In den Niederlanden vertreten einige Autoren die Ansicht, dass die EMRK eine „eigenständige Rechtsordnung“ bilde, hauptsächlich weil der umfassende Durchsetzungsmechanismus mit einem eigenständigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Verbindung zwischen Primär- und Sekundärnormen hergestellt hat.[119] Diese Ansicht wurde in der Tat durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt: „Im Unterschied zu völkerrechtlichen Verträgen der klassischen Art enthält die Konvention mehr als nur gegenseitige Verpflichtungen der vertragsschließenden Staaten. Sie schafft objektive Verpflichtungen, die über die Vielzahl gegenseitiger, zwischenstaatlicher Verträge hinausgehen, und die nach dem Wortlaut der Präambel von der ‚kollektiven Garantie‘ profitieren. Gemäß Art. 24 ist es den Vertragsstaaten gestattet, auf die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu bestehen, ohne zuvor ein eigenes Interesse anzuführen, das zum Beispiel daher rührt, dass die von ihnen beanstandete Maßnahme einen ihrer Staatsbürger benachteiligt.“[120]
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Im Allgemeinen wird die Europäische Menschenrechtskonvention – wenngleich sie eine wichtige Ergänzung zur niederländischen Verfassung bildet – als ein gewöhnlicher Vertrag angesehen, dem die besonderen Merkmale der Verträge über die Europäischen Gemeinschaften fehlen. In der Tat herrschte bereits während des Ratifikationsverfahrens allgemein die Ansicht, dass die Konvention keine wesentliche Bedeutung für die Niederlande haben würde, da der niederländische Menschenrechtsschutz dem internationalen Maßstab schon entspricht.[121] Seit Inkrafttreten der Menschenrechtskonvention stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dennoch in fünfzig Fällen einen Verstoß der Niederlande gegen die Konvention fest, was im Durchschnitt einen Fall pro Jahr ausmacht. Im Jahr 2003 gingen beim Menschengerichtshof 451 Klagen gegen die Niederlande ein, von denen allerdings 278 als unzulässig zurückgewiesen wurden.[122]
2. Das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zum niederländischen Verfassungsrecht
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Im Gegensatz zur Debatte über die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die niederländische Rechtsordnung hat die Europäische Menschenrechtskonvention nicht die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 93 und 94 Grondwet aufgeworfen. Sowohl die EMRK als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden nach der herrschenden Ansicht auf der Grundlage dieser Verfassungsbestimmungen Eingang in die niederländische Rechtsordnung. Aufgrund des Wortlauts von Art. 93 Grondwet, nach dem „Beschlüsse völkerrechtlicher Organisationen“ – neben Verträgen – Verbindlichkeit nach ihrer Veröffentlichung erlangen, vertreten einige Autoren die Ansicht, dass aufgrund von Art. 93 Grondwet auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die niederländische Rechtsordnung übertragen werden könne.[123] Andere Autoren weisen darauf hin, dass diese Ansicht in Bezug auf Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs, die nicht an die Niederlande gerichtet sind, problematisch sei. Weil diese Entscheidungen für die Niederlande formell nicht rechtsverbindlich seien, könne die niederländische Verfassung diese auch nicht auf der Grundlage von Art. 93 Grondwet mit einer solchen Bindungswirkung versehen. Vertretbar ist zudem, dass diese Urteile nicht in den Niederlanden veröffentlicht werden und somit die Voraussetzungen des Art. 93 Grondwet nicht erfüllt sind.[124]
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Die Lösung des Problems liegt darin anzuerkennen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bestimmungen der Konvention auslegt und diese somit einen wesentlichen Bestandteil der Konvention bildet. Demnach gilt die Straßburger Rechtsprechung auf der Grundlage von Art. 93 in der niederländischen Rechtsordnung.[125]
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Dies gilt gemäß Art. 93 Grondwet jedoch nur für Bestimmungen, die „ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“. Im Jahre 1953 war für die Regierung nicht absehbar, ob alle Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unmittelbar wirksam sein würden. Im Hinblick auf die von den Gerichten in der Praxis zu beachtenden Auswirkungen legte insbesondere der Justizminister Wert auf die Feststellung, dass die Mitgliedstaaten aufgrund von den mit der Konvention eingegangenen Verpflichtungen sicherstellen müssen, dass ihre Gesetze mit den Bestimmungen der Konvention übereinstimmen. Dennoch erklärte schließlich die Regierung, dass die unmittelbare Wirksamkeit von Bestimmungen von deren Wortlaut abhänge.[126] Auch der Staatsrat problematisierte die Tatsache, dass die nationalen Gerichte die Frage entscheiden müssen, ob etwas nach dem Wortlaut der Konvention „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“. Diese Entscheidung falle in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers und der Regierung und würde daher die Zuständigkeitsgrenzen verwischen.
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Der Staatsrat befürchtete, dass der Vorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention allgemein zur Rechtsunsicherheit beitragen könnte. Tatsächlich werden gesetzliche Vorschriften auf der Grundlage von Art. 94 Grondwet „nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen völkerrechtlicher Organisationen nicht vereinbar ist.“ Bezüglich der EMRK stellte sich die Frage, ob die niederländischen Gerichte diese Bestimmung heranziehen dürfen, um gesetzliche Vorschriften sogar dann außer Acht zu lassen, wenn diese mit Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang gebracht werden können. Während einige Autoren die Ansicht vertreten, dass Art. 94 Grondwet lediglich eine enge Auslegung der Konvention gestattet (wodurch das niederländische Recht nicht zur Anwendung kommt), bevorzugen andere diesbezüglich einen allgemeinen Vorrang der EMRK. Mit anderen Worten: Immer wenn das niederländische Recht dem Anschein nach im Widerspruch zur Konvention steht, sollte dieser Konflikt zu Gunsten des jeweiligen Klägers entschieden werden.[127]
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Abgesehen von diesen speziellen Fragen zu Art. 93 und 94 Grondwet kann zusammenfassend festgestellt werden, dass diese beiden Bestimmungen zumindest anwendbar sind und dass die Geltung der EMRK aus diesem Grunde in der niederländischen Verfassung nicht besonders geregelt ist. Wie jeder Vertrag unterliegt auch die Konvention den allgemeinen Regelungen zur Anwendung des Völkerrechts in der Rechtsordnung der Niederlande. Mit diesem Argument gelang es der Regierung im Jahre 1953 letzten Endes, das Parlament davon zu überzeugen, die Konvention zum Vorteil der Niederlande zu ratifizieren. Sowohl die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Niederlande zur Förderung der internationalen Rechtsordnung als auch die Annahme, dass sich die Konvention in den Niederlanden höchstwahrscheinlich kaum auswirken wird, ermöglichte eine nach Ansicht sowohl der Regierung als auch des Parlaments verfassungsgemäße Ratifikation der EMRK.
3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das niederländische Verfassungsrecht
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In der Loizidou-Entscheidung bezeichnete der EGMR die EMRK als das „Verfassungsinstrument der öffentlichen Ordnung in Europa“[128]. In den Niederlanden gilt die Konvention allgemein als ein fester Bestandteil der „Verfassung“. Die Gerichte sind gemäß Art. 120 Grondwet nicht befugt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. Die dadurch entstehende Lücke im Rechtsschutz konnte durch die EMRK oftmals geschlossen werden. In diesem Zusammenhang kommt man schnell zu der Auffassung, dass die EMRK für den Schutz der Menschenrechte wichtiger ist als die niederländische Verfassung.
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In einer Vielzahl von Entscheidungen hat der EGMR die Niederlande gezwungen, ihre gesetzlichen Vorschriften entsprechend den Bestimmungen der Konvention zu ändern. Die Benthem-Entscheidung war in dieser Hinsicht von größter Bedeutung, da sie die Niederlande zur Änderung des Rechtsschutzes im Verwaltungsverfahren zwang.[129] Ursprünglich war eine Anrufung der Krone nur möglich, nachdem der Verwaltungssenat des Staatsrates ein Urteil erlassen hatte. In der Benthem-Entscheidung vertrat der Gerichtshof jedoch die Auffassung, dass die Krone nicht als ein „unabhängiges und unparteiisches