Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
Das zweite Szenario liegt vor, wenn die Regierung und die Zweite Kammer der Auffassung sind, dass ein Vertrag von Verfassungsbestimmungen abweicht, die Erste Kammer aber zu einer anderen Schlussfolgerung kommt und die Zustimmung zu dem Vertrag mit einer einfachen Mehrheit erteilt. In diesem Fall muss die Regierung die Ratifikation des Vertrages verweigern, es sei denn, sie stimmt der Auffassung der Ersten Kammer nachträglich zu. Das dritte Szenario tritt ein, wenn die Regierung und die Erste Kammer übereinstimmend der Auffassung sind, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt, die Zweite Kammer aber anderer Meinung ist und das Zustimmungsgesetz nach Änderung der Abweichungsklausel mit einfacher Mehrheit verabschiedet. Nach der Auffassung des Staatsrats und in Übereinstimmung mit der hierzu herrschenden Meinung in der Literatur[99] sollte die Erste Kammer sich in diesem Fall entweder gar nicht mit dem Gesetz befassen, es ablehnen oder dem Vertrag trotz allem mit einfacher Mehrheit zustimmen, da sie nicht die Befugnis zur Änderung von Gesetzen hat. Im vierten Szenario beschließt die Regierung, dass kein Verfassungsverstoß vorliegt, während die beiden Kammern die gegenteilige Auffassung vertreten. In diesem Fall können beide Parlamentskammern das Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit verabschieden, nachdem die Zweite Kammer die Abweichungsklausel entsprechend geändert hat.[100]
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In einem wissenschaftlichen Gutachten zu Verträgen, die von Verfassungsbestimmungen abweichen, und zur Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen stimmen Besselink und andere mit einigen der Prämissen der Szenarien nicht überein.[101] Sie betonen vielmehr die unabhängige Stellung der drei Gesetzgebungsorgane und heben hervor, dass jedes der drei Organe eine eigene verfassungsrechtliche Rolle habe. Demzufolge können beide Kammern des Parlaments sich ihr eigenes Urteil bilden und sich unabhängig voneinander für das jeweils anzuwendende Verfahren entscheiden. Die Regierung wird das Ergebnis dieses Verfahrens hinnehmen müssen, da nur das Parlament verfassungsrechtlich dazu ermächtigt ist, das zur Annahme eines Vertrages erforderliche Zustimmungsgesetz zu erlassen. Die parlamentarische Zustimmung liegt natürlich nur dann vor, wenn beide Kammern des Parlaments ihre Zustimmung zu dem in Frage stehenden Gesetz gegeben haben.
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Des Weiteren wurde vorgeschlagen, den Anwendungsbereich von Art. 91 Abs. 3 Grondwet zu erweitern, so dass auch Verstöße gegen den Geist der Verfassung und der sie tragenden ungeschriebenen Grundsätze mit einbezogen sind.[102] Dadurch würde jedoch das Verfahren gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet mit seinen erhöhten Anforderungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen.[103] Dies kann nach Meinung des Staatsrats jedoch nicht die Absicht des Verfassunggebers gewesen sein.[104] Zudem sei durch einen derart erweiterten Anwendungsbereich die Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet, da die Voraussetzungen für eine gerichtliche Überprüfung zu unbestimmt seien.[105]
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In letzter Zeit wurde auch die Aufhebung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet vorgeschlagen, da dieser zu kompliziert, zu selten angewandt und lediglich zum politischen Geschacher geeignet sei.[106] Man könnte sich in der Tat vorstellen, dass das Parlament durch Zustimmung mit einfacher Mehrheit abschließend feststellt, dass kein Verfassungsverstoß vorliegt und somit keine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Einige Abgeordnete der Ersten Kammer haben auf die groteske Situation hingewiesen, die durch die Auslegung des Art. 91 Abs. 3 Grondwet entsteht, nach welcher dieser nur bei Abweichungen von bestimmten Verfassungsbestimmungen anwendbar ist. Während Art. 91 Abs. 3 Grondwet immer dann angewendet werden müsse, wenn ein Vertrag gegen verhältnismäßig unwichtige, zweitrangige Bestimmungen verstoße, könnten dagegen Verträge, die gegen den Geist der Verfassung oder der sie tragenden ungeschriebenen Grundsätze verstoßen bzw. die nationale Souveränität verletzen, ohne Schwierigkeiten angenommen werden.[107]
4. Die Offenheit der Verfassung und die Probleme der demokratischen Legitimation
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Nach den obigen Darstellungen galt in den Niederlanden bereits gewohnheitsrechtlich die Regel der unmittelbaren Wirksamkeit internationaler Verträge. Dies wurde im Zuge der Verfassungsänderung im Jahre 1953 normativ festgeschrieben. Dadurch sollte unter anderem die parlamentarische Mitwirkung bei der Zustimmung zu Verträgen gewährleistet werden. Schließlich wurde zur damaligen Zeit deutlich, dass internationale Verträge sich auf die niederländische Rechtsordnung auswirken könnten und somit ein ernstzunehmendes Demokratiedefizit entstehen könnte, wenn die reguläre Mitwirkung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren unterlaufen würde. Mit geringfügigen Änderungen blieb Art. 91 in der Verfassung aus dem Jahr 1983 erhalten, der nun wie folgt lautet:
„1. | Ohne vorherige Zustimmung durch die Generalstaaten ist das Königreich nicht an Verträge gebunden und werden Verträge nicht gekündigt. Die Fälle, in denen keine Zustimmung erforderlich ist, bezeichnet das Gesetz. |
2. | Durch Gesetz wird bestimmt, in welcher Weise die Zustimmung erteilt wird. Das Gesetz kann eine stillschweigende Zustimmung vorsehen. |
3. | Enthält ein Vertrag Bestimmungen, die von der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen, können die Kammern ihre Zustimmung durch Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erteilen.“ |
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Gemäß der Verfassung ist somit eine vorherige Zustimmung mit qualifizierter Mehrheit erforderlich, bevor einem Vertrag bindende Wirkung in den Niederlanden zukommt. Dies gilt seit der Verfassungsänderung im Jahr 1956[108] auch für die Kündigung von Verträgen durch die Regierung. Gemäß Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen ist eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich, wenn Verträge von der Verfassung abweichen. Gemäß Art. 4 dieses Gesetzes kann diese Zustimmung nur durch Gesetz erfolgen. Gemäß Art. 6 Abs. 2 muss in einem Zustimmungsgesetz zu Verträgen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen oder eine solche Abweichung erforderlich machen, die ausdrückliche Erklärung enthalten sein, dass die Zustimmung zu dem Vertrag nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass Art. 91 Abs. 3 Grondwet eingehalten ist. Bestehen diesbezüglich Zweifel, so muss das Gesetz die Erklärung enthalten, dass die Zustimmung nur erteilt wird, „soweit oder sofern die Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 3 eingehalten sind“[109]. In der Verfassung aus dem Jahre 1953 war die Möglichkeit einer stillschweigenden Zustimmung in Art. 61 ausführlich geregelt. Wie aus Art. 91 Abs. 2 der Verfassung in ihrer gegenwärtigen Form hervorgeht, kann eine solche Regelung nunmehr durch Parlamentsgesetz getroffen werden. Demzufolge ist gemäß Art. 3 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen entweder die stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung gestattet, wobei in Art. 5 des Gesetzes ein besonderes Verfahren für die stillschweigende Zustimmung vorgesehen ist. Die Ausnahmen zur regelmäßig erforderlichen parlamentarischen Zustimmung sind in Art. 7 des Gesetzes aufgezählt. Demnach ist eine parlamentarische Zustimmung nicht erforderlich, wenn
„a. | die Ablehnung eines bestimmten Vertrages gesetzlich geregelt ist; |
b. | der Vertrag lediglich der Ausführung eines anderen Vertrages dient (sofern das Parlament keine andere Entscheidung trifft; siehe Art. 8 Abs. 2); |
c. | der Vertrag keine gewichtigen finanziellen Folgen und eine Laufzeit von höchstens einem Jahr hat; |
d. | außergewöhnliche Umstände und dringende Gründe die Geheimhaltung des Vertrages erfordern; |
e. | mit dem Vertrag offensichtlich ein bereits bestehender Vertrag verlängert werden soll (sofern das Parlament keine andere Entscheidung trifft); und |
f. |