Einführung in das Verfassungsrecht der USA. Guy Beaucamp
Verfassungsrecht (Art. 79 GG, Art. V USC)[10].
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Verwandte Grundrechtskataloge finden sich schließlich sowohl in der sogenannten Bill of Rights (Amendment 1-8 USC) als auch in Art. 1–17 GG[11]. Beide Verfassungen setzen z.B. auf Meinungsvielfalt und Pluralismus[12].
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Ob diese erste Bestandsaufnahme von Parallelen näherer Betrachtung standhält, soll im Folgenden geklärt werden. Es könnte sich herausstellen, dass man auf einige „falsche Freunde“ (false friends) gestoßen ist[13]. So bezeichnen Übersetzer Worte in verschiedenen Sprachen, die zwar gleich oder sehr ähnlich aussehen, jedoch eine völlig andere Bedeutung haben. „Gymnasium“ ist im Englischen eine Turnhalle oder ein Fitnessstudio, jedoch keine weiterführende Schule. Wenn man im Deutschen „brav“ sagt, kann man dies nicht mit dem englischen Wort „brave“ (= tapfer) übersetzen, sondern muss etwa den Ausdruck „well-behaved“ wählen.
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Um für solche möglichen Fehleinschätzungen zu sensibilisieren sollen im folgenden Abschnitt Gründe zusammengestellt werden, die echten Parallelen zwischen den beiden Verfassungen entgegenstehen.
Anmerkungen
Levinson, S. 30; Lindenblatt, S. 84; Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 3; Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 527.
Weber, S. 186 für Deutschland, Articles of Confederation für die USA.
Levinson, S. 30 f.
Lindenblatt, S. 84.
Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 527; Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 3.
Heringa, S. 38; Lütjen, S. 77.
Heringa, S. 37; ebenso Grimm, S. 109.
Kommers/Miller, S. 38; Schlaich/Korioth, S. 1 u. 409 ff.; Voßkuhle, European Constitutional Law Review 6 (2010), 175, 179; Steiner, Jura 2019, 441, 446; Glendon, S. 95, 103 für Deutschland; Kahn, Michigan Law Review 101 (2003), 2677, 2686; Lepore, S. 716 für die USA.
Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 527.
Grimm, S. 111.
Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 527; Lindenblatt, S. 85.
Vergl. Grimm, S. 117 f.
S.a. Tushnet, Comparative, S. 6 mit dem Beispiel „judicial review“, ein Ausdruck, der in den USA und in Großbritannien unterschiedlich verstanden wird; ähnlich Teitel, Harvard Law Review 117 (2004), 2570, 2577.
A. Einleitung › II. Mögliche Gründe für gravierende Unterschiede
II. Mögliche Gründe für gravierende Unterschiede
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Es mag banal erscheinen, aber der Text der US-Verfassung ist im Original mit 4543 Worten[1] weniger als halb so lang wie der Text des Grundgesetzes von 1949 mit rund 11.000 Worten[2]. Nimmt man alle Verfassungsänderungen hinzu, bleibt das Bild gleich. Die heutige US-Verfassung hat 7591 Worte[3], das aktuelle Grundgesetz mehr als 20.000[4]. Dies bedeutet, dass in der US-Verfassung viel mehr Aspekte ungeregelt geblieben und Konkretisierung, Interpretation sowie Ergänzung häufiger nötig sind[5], als ohnehin im eher offen formulierten Verfassungsrecht[6]. „Ungeschriebenes“ Verfassungsrecht, obwohl in jedem Verfassungssystem vorhanden[7], hat ein größeres Gewicht für die US-Verfassung[8] als für das Grundgesetz.
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Die US-Verfassung ist 162 Jahre älter und zählt zu den am längsten geltenden Verfassungen weltweit[9]. Ihr historischer, politischer und philosophischer Hintergrund ist mit dem des Grundgesetzes unvergleichbar[10]: Auf der einen Seite ein Befreiungskrieg gegen den englischen König und die Konföderationsartikel als erste Verfassung, auf der anderen Seite die Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus, der Besatzung einschließlich der Vorgaben der Militärgouverneure für die neue Verfassung. In den 162 Jahren, die zwischen den beiden Verfassungen liegen, sind Probleme aufgekommen, von denen man 1787 wenig oder nichts ahnen konnte, etwa die Dominanz der politischen Parteien[11], die sogenannte soziale Frage, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder die Frage der Massenmedien.
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Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes stellte sich andererseits – ebenfalls aus historischen Gründen – ein Problem nicht, welches an verschiedenen Stellen der US-Verfassung angesprochen wird: die Sklaverei. Diese war für die Gründungsväter der USA ein fester Bestandteil ihrer Gesellschaft[12]. Sklaven zählten nach dem mittlerweile aufgehobenen Art. I, section 3 USC zur Bevölkerung und steigerten sowohl die Zahl der Sitze im Repräsentantenhaus, die ein Bundesstaat erhielt, als auch die Zahl der Wahlmänner zur Wahl des US-Präsidenten, wobei die nicht wahlberechtigten Sklaven mit Drei-Fünftel eingerechnet wurden[13]. Diese Regelungen hatten die Wirkung, dass der weiterlaufende Import von Sklaven in die Südstaaten der USA deren politischen Einfluss erhöhte (slave bonus)[14]. Ein praktisches Beispiel: 1790 hatten sowohl der Bundesstaat New Hampshire als auch der Bundesstaat South Carolina 140.000 freie Bürger und damit jeweils vier Sitze im damaligen Repräsentantenhaus. Weil in South Carolina aber 100.000 Sklaven registriert waren, bekam dieser Bundesstaat zwei weitere Sitze zugesprochen[15]. Der Sklavenhandel durfte bis 1808 selbst durch Verfassungsänderung nicht verboten werden (Art. I section 9 cl 1 i.V.m. Art. V USC). Der mittlerweile ebenfalls aufgehobene Art. IV section 3 USC verpflichtete dazu, entflohene Sklaven ihren Eigentümern zurückzugeben. Insgesamt lassen die aufgeführten Regelungen den Schluss zu, das die Verfassung von 1787 den Staaten, die Sklaven hielten, sehr entgegenkam[16].
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Die beiden Verfassungstexte stehen in sehr unterschiedlichen juristischen Traditionen. Das amerikanische Recht fußt auf dem englischen common law, welches als Fallrecht von Richtern entwickelt wurde[17], das Grundgesetz entstand vor dem Hintergrund des civil law, welches stärker von Rechtswissenschaftlern entwickelt wurde und auf dem System – oder Kodifikationsgedanken beruht[18]. Es darf vermutet werden, dass im US-amerikanischen