Zeuge und Aussagepsychologie. Gabriele Jansen
In einem Erpressungsverfahren hat der BGH [4 StR 583/01] die fehlende erstinstanzliche Prüfung der Entstehungsgeschichte der polizeilichen Aussagen gerügt. Es findet sich auch eine jüngere Entscheidung in einem Erpressungsverfahren, BGH [3 StR 33/05][152], in der es auf die Aussageentstehung ankommt.
(4) Schwurgerichtsverfahren
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In einem Schwurgerichtsverfahren ging es um die Beurteilung einer behaupteten Erinnerungslosigkeit eines Entlastungszeugen, die der BGH [1 StR 541/08][153] mit Blick auf die innere Festlegung des Zeugen, der Angeklagte könne nicht der Täter sein, für rekonstruiert hielt.
cc) Mitbeschuldigter
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Besondere Aufmerksamkeit verdient die Entscheidung des 5. Strafsenats aus dem Jahr 1999, BGH [5 StR 252/99][154] in der die Prüfung der Aussageentstehungsgeschichte – soweit hier erkennbar – erstmalig in einem Schwurgerichtsverfahren bei einem Mitbeschuldigten für erforderlich erachtet wurde. Es ging um die Beurteilung eines Wechsels der Inhalte in den Angaben eines Mitbeschuldigten. Dabei kam der Prüfung der Alternativhypothese, ob die Aussage des Mitbeschuldigten auch anders als durch tatsächliches eigenes Erleben erklärbar ist, besondere Bedeutung zu.
Geständnis des Mitbeschuldigten. Spätestens mit der 2002 ergangenen Entscheidung des 1. Strafsenats [1 StR 464/02][155] hat die Prüfung der Aussageentstehung auch in Wirtschaftsstrafverfahren Einzug gehalten.
Solche zeichnen sich vielfach – vor allem im Korruptionsbereich – vor allem dadurch aus, dass meist keine (neutralen) Zeugen als Beweismittel zur Verfügung stehen, sondern sich die Ermittlungen wesentlich bzw. ausschließlich auf Angaben von Mitbeschuldigten stützen. Häufig werden derlei Verfahren mit Geständnissen im Deal-Wege beendet.
Maßgeblich für die Glaubhaftigkeitsprüfung des Geständnisses ist seine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, also „das Zustandekommen, der Inhalt und ggf. das Scheitern einer verfahrensbeendenden Absprache“.
Der BGH [1 StR 370/07][156] hat die Bedeutung der Entstehungsgeschichte in einer Nachfolgeentscheidung noch einmal bekräftigt.
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Prüfung der Entstehungsgeschichte des Deals
• | Zustandekommen |
• | Inhalt |
• | Scheitern |
Das führt zu vielerlei prozessual interessanten Fragestellungen. In der Konsequenz müssen alle an der Absprache Beteiligten als Zeugen gehört werden. Waren in dem Verfahren gegen den ehemaligen Mitbeschuldigten und jetzigen Belastungszeugen dieselben Richter beteiligt, so stellt sich im Rahmen der Rekonstruktion das Problem der Vernehmung der erkennenden Richter als Zeugen. Diese müssten ihre eigenen Angaben über das Zustandekommen der Absprache würdigen. Das ist nach § 22 Nr. 5 StPO unzulässig. Ihre Vernehmung kann zu Recht nicht durch dienstliche Erklärungen „ersetzt“ werden – das hat der BGH[157] klargestellt.
Nach wie vor finden sich z. B. keine aussagepsychologischen Entscheidungen zur Qualität der Aussagen Mitbeschuldigter in Wirtschafts-/Korruptionsverfahren, in denen typischerweise[158] Beschuldigte die Entlassung aus der Untersuchungshaft nicht nur mit der Selbstbezichtigung, sondern erst mit der Beschuldigung eines anderen erzielen können.
dd) Beschuldigter – Einlassung
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Nach BGH [2 StR 94/95][159] unterliegt die Beweiswürdigung der Einlassung des Beschuldigten denselben Beweisregeln wie andere Beweismittel.
Entlastende Angaben des Angeklagten sind insbesondere nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Vielmehr hat der Tatrichter sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden.
ee) Beschuldigter – falsche Alibibehauptung
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Nach BGH[160] ist eine falsche Alibibehauptung „für sich allein kein Beweisindiz für dessen Täterschaft, da … auch ein Unschuldiger Zuflucht zur Lüge nehmen kann. Entsprechendes gilt in Fällen der Lüge des Angeklagten zu anderen beweisrelevanten Umständen, einer Fallgruppe, von der die Konstellation der widerlegten (nicht etwa nur fehlgeschlagenen) Alibibehauptung einen Ausschnitt bildet (…)“. Zu berücksichtigen ist, „ob und in welchem Umfang von dem Grundsatz, daß auch Unschuldige Zuflucht zu einer Lüge nehmen können (…), Ausnahmen zu machen sind. Treten nämlich besondere Umstände hinzu, so darf – und muß gegebenenfalls – auch der Umstand zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden, daß dieser sich wahrheitswidrig auf ein Alibi berufen hat, indem er bewußt unwahre Behauptungen aufgestellt hat. Dabei kann es insbesondere auf die Gründe und die Begleitumstände des Vorbringens der Alibibehauptung ankommen (…). In Fällen dieser Art ist der Tatrichter gehalten, die Umstände des Vorbringens der falschen Alibibehauptung zu erörtern“ und „sich einerseits mit der Aussageentstehung, der Vernehmungstechnik und der Protokollierung (vgl. Nr. 45 Abs. 2 RiStBV) und andererseits mit dem damaligen – etwa durch Vorhalte zustande gekommenen – Informationsstand des Angeklagten und dessen Verteidigungsstrategie auseinanderzusetzen“.
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Prüfung der falschen Alibibehauptung
• | Aussageentstehung |
• | Vernehmungstechnik |
• | Protokollierung (Nr. 45 Abs. 2 RiStBV) |
• | Informationsstand des Beschuldigten (ggf. durch Vorhalte beeinflusst) |
• | Verteidigungsstrategie |
b) BGH-Rechtsprechung zur Motivationslage
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Hat der Zeuge ein Motiv, den Beschuldigten bewusst falsch zu belasten?
Die Antwort wird häufig davon abhängen, wie gut im konkreten Fall nach einem Motiv gesucht wird. Meist wird die Prüfung mehr oder weniger „routinemäßig“ vorgenommen, d. h. nur wenig differenziert ohne den konkreten Sachverhalt im Blick zu haben. Mehr stereotyp werden die „klassischen“ Motive wie Eifersucht, Rache, Hass geprüft. Trotz stetig wiederkehrender Belehrung durch den BGH wird potentielles Ablenken vom eigenen Tatbeitrag oder die Absicht, durch die falsche Beschuldigung eines anderen selbst einen Vorteil zu erstreben, bei der Beurteilung von Aussagen von Mitbeschuldigten oft außer Acht gelassen oder nicht hinreichend gewürdigt.[161]
Vereinzelt finden sich Entscheidungen, wonach nicht zwangsläufig von einem vorhandenen Motiv auf eine bewusst falsche Aussage zu schließen ist. Nur selten fragt der Strafjurist, ob sich der Zeuge zum Zeitpunkt der Beschuldigung