Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Gleichwohl enthalten die Regelungen zusammen mit den Sondervorschriften für die Wuchergerichte einen Vorgeschmack auf die AusnahmeVO des Reichspräsidenten am Ende der Weimarer Republik und die strafverfahrensrechtliche Entwicklung im Dritten Reich.
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Um den Bestrafungsverlangen der Alliierten für im Ersten Weltkrieg von deutschen Soldaten begangene Kriegsverbrechen nachzukommen, wurde für derartige Straftaten eine erst- (und letztinstanzliche) Zuständigkeit des Reichsgerichts geschaffen.[15] Auch wenn es in der Praxis nur zu sehr wenigen Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen kam,[16] wurde dabei zugleich der Grundsatz ne bis in idem vollständig aufgegeben. Ein früherer Freispruch, die Gewährung von Straffreiheit, der Eintritt der Verfolgungsverjährung oder ein früheres Verfahren schlossen ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen und -vergehen nicht aus. Stellte sich nach einem Freispruch doch ein hinreichender Tatverdacht wegen einer entsprechenden Straftat heraus, konnte das Reichsgericht auf Antrag des Oberreichsanwalts die Wiederaufnahme anordnen. Gleiches galt bei einer früheren Verurteilung, wenn die Strafe im offenbaren Missverhältnis zur Tat stand.
II. Reformdiskussion: Neuer Staat – neues Strafverfahren?
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Mit der Gründung einer demokratischen Republik wurde unter dem Schlagwort „demokratischer Staat – demokratisches Strafverfahren“ eine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts in Angriff genommen. Franz von Liszt erneute 1918 seine Forderungen, die Reste des inquisitorischen Prinzips müssten konsequent beseitigt werden, um ein „volkstümliches Strafverfahren“ mit einer „kontradiktorischen Hauptverhandlung“ eines echten Anklageprozesses zu schaffen.[17] Der Ende 1919 vom Reichsjustizminister Schiffer im Reichsrat eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen“[18] befand sich ganz auf der Linie dieser Forderung. Die RStPO wurde als Teil des untergegangenen kaiserlichen Obrigkeitsstaates abgelehnt. Stattdessen knüpfte Goldschmidt, der einer der Hauptverfasser des Entwurfs war,[19] an die Reformgedanken der Aufklärungsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und forderte die Implementierung eines Parteiprozesses nach englischem Vorbild. Die Rechtsstellung des Beschuldigten sollte dafür grundlegend verbessert werden. Der Beschuldigte, der strukturell schwächer sei als die Vertreter der staatlichen Gewalt, müsse durch das Strafverfahrensrecht so geschützt werden, dass er nicht „im Parteikampf wegen Ungleichheit der Kräfte zu Unrecht unterliege“.[20] Dazu sollten die gerichtliche Voruntersuchung und der Eröffnungsbeschluss abgeschafft, die Anforderungen an den Erlass eines Haftbefehls wesentlich verschärft und ein eigenständiges Beweisaufnahmeverfahren mit einem Beweisantragsrecht schon vor der Hauptverhandlung eingeführt werden. Zentral war auch die Forderung, den Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren über sein Schweigerecht zu belehren.[21] Zusammen mit diesen Vorschlägen wurde der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes“[22] eingebracht, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben umsetzen und die Amtsgerichte als Schwerpunkt der erstinstanzlichen Zuständigkeit zu Lasten der bisherigen Zuständigkeit der Strafkammern an den Landgerichten ausgestalten sollte. Gleichwohl hielt der Entwurf beim Schwurgericht an der sehr umstrittenen Trennung zwischen Berufsrichtern und Geschworenen fest. Es zeigte sich bereits eine Linie, die auch viele spätere Gesetzesvorhaben in der Weimarer Zeit bestimmen sollte, nämlich das Ziel, angesichts der prekären Staatsfinanzen Ressourcen bei der Strafjustiz zu sparen. Dazu sollte die Richterzahl in den Spruchkörpern reduziert und durch eine Vereinfachung des Verfahrens, insbesondere durch eine Einschränkung der Rechtsmittel, die Dauer von Strafverfahren insgesamt verkürzt werden. Beide Gesetzesentwürfe stießen jedoch auf entschiedenen Widerstand der preußischen Regierung, so dass sich selbst Reichsjustizminister Schiffer im Herbst 1920 von den Entwürfen distanzierte.[23] Dennoch haben die Vorschläge zur Neugestaltung der sachlichen Zuständigkeit der Strafgerichte die kurze Zeit später in Kraft tretenden Regelungen der EmmingerVO maßgeblich beeinflusst.
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Ein kleiner Teil der von Goldschmidt/Schiffer vorgeschlagenen Änderungen trat durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte vom 11. März 1921 in Kraft,[24] das die erstinstanzliche Zuständigkeit des Schöffengerichts zu Lasten der Strafkammern ausdehnte, indem die Staatsanwaltschaft bei Vergehen und bestimmten Verbrechen ein Wahlrecht zur Anklage zum Schöffengericht hatte, auch wenn eigentlich die Zuständigkeit der Strafkammer begründet war. Das Abfassen der Urteilsgründe wurde erleichtert, da bei einem allseitigen Rechtsmittelverzicht abgekürzte Urteilsgründe zulässig waren (§ 266 Abs. 4 RStPO) und die Urteilsabsetzungsfrist auf sieben Tage verlängert wurde. Durch eine erhebliche Erweiterung des Privatklageverfahrens, das bis dahin nur bei Beleidigungen oder Körperverletzungen zulässig war, konnte die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten mit geringerem Gewicht Ressourcen einsparen.[25] Das Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte vom 8. Juli 1922[26] gab dem Reichsgericht die Möglichkeit, Revisionen durch einstimmigen Beschluss ohne Hauptverhandlung als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Für das Reichsgericht bedeutete dies tatsächlich eine spürbare Entlastung, da zuvor nur unzulässige Revisionen durch Beschluss verworfen werden konnten. Weiterhin wurde die Zulässigkeit der Widerklage im Privatklageverfahren erweitert, um eine sonst erforderliche weitere Privatklage zu vermeiden. Die damals heftig umstrittene, aber verfassungsrechtlich gem. Art. 109 Abs. 2 WRV geforderte, Öffnung des Schöffen- und Geschworenenamtes für Frauen wurde durch Gesetz vom 25. April 1922 umgesetzt, wobei zumindest ein Schöffe bei der jeweiligen Gerichtsbesetzung männlich sein musste.[27]
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Als weitere wichtige Änderungen, die dem Grunde nach teilweise bis heute gelten, sind die Einführung der strafverfahrensrechtlichen Vorschriften der Reichsabgabenordnung vom 19. Dezember 1919,[28] das Gesetz über die beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken vom 9. April 1920[29] und das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 zu nennen.[30] Letzteres führte die Jugendgerichte als Schöffengerichte ein und modifizierte die grundsätzlich geltenden allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelungen in Strafsachen gegen Jugendliche.
III. Die EmmingerVO
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Kurz nach dem Scheitern der Goldschmidt/Schiffer-Entwürfe bemühte sich die Reichsregierung, wenigstens einen Teil der gerichtsverfassungsrechtlichen Änderungsvorschläge in Kraft treten zu lassen. Die diesbezüglichen Entwürfe der Reichsjustizminister Radbruch (1922) und Heinze (1923) verliefen zwar im Sande,[31] beeinflussten aber das kurz darauf folgende wichtigste Reformwerk während der Weimarer Republik,[32] die VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924.[33] Dass dieses Regelungswerk, nach dem Reichsjustizminister Emminger allgemein als EmmingerVO bezeichnet, anders als seine Vorgänger tatsächlich in Kraft treten konnte, lag vor allem daran, dass es nicht im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beschlossen wurde. Es beruhte auf dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, das die Reichsregierung ermächtigte, „die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet“.[34] Hintergrund der Änderungen waren die finanziellen Probleme des Reiches, die Kosteneinsparungen bei der Justiz erforderten, so dass es nahelag, durch gerichtsverfassungsrechtliche Reformen die Zahl der mit einer Sache befassten Berufsrichter zu reduzieren, Verfahren allgemein kürzer zu gestalten und durch den Abschied vom strikten Legalitätsprinzip „nutzlose Strafverfahren […] ganz und gar zu vermeiden“.[35] In konsequenter Umsetzung dieses Ziels regelte die EmmingerVO als besondere Notmaßnahmen für eine Dauer von drei Monaten den vollständigen Verzicht auf Schöffen und Geschworene, das Ruhen aller Privatklagen und Beschränkungen bei der Berufung. Die Rationalisierung der Justiz blieb dann auch bis 1932 Leitbild der meisten Änderungen im Strafverfahrensrecht, zumal sich die Verfahrensbelastung der Strafjustiz angesichts der wirtschaftlichen Rezession und des Anstiegs der – auch strafrechtlich relevanten – Auseinandersetzungen zwischen den politischen Gegnern noch erhöhte. Auch wenn die Kritik der Zeitgenossen gegen die Änderungen teilweise vernichtend ausfiel,[36] kodifizierte die EmmingerVO doch zahlreiche Gedanken, die auch im geltenden Strafverfahrensrecht zumindest ähnlich zu finden sind, so dass es berechtigt ist, die EmmingerVO als „beachtlichen Schub, vielleicht