Insolvenzstrafrecht. Gerhard Dannecker
der Schuldner außerhalb des eingeräumten unternehmerischen Risikos eine Situation drohenden Forderungsausfalls schaffe.[21] Dies müsse verhindert werden. Für die Einordnung der Gestaltungsrechte als eigenständiges Rechtsgut spreche schließlich auch die Neuausrichtung der Ziele des Insolvenzverfahrens durch die InsO. So wurde auf der einen Seite die Sanierung neben die Liquidation gestellt und auf der anderen Seite dem Gläubiger das Verfügungsrecht über das schuldnerische Vermögen übertragen.[22]
39
Die vorzugswürdige Gegenansicht[23] lehnt die Einbeziehung der Gestaltungsfreiheit der Gläubiger in den Kreis der Rechtsgüter ab und sieht in den Gestaltungsinteressen auch nach der reformierten Insolvenzordnung lediglich einen unselbstständigen Bestandteil der Befriedigungsinteressen der Gläubiger. Die Fortführung eines Unternehmens müsse als bloße Form der intensiven Verwertung des Schuldnervermögens angesehen werden, was kein eigenständiges Ziel des Insolvenzverfahrens darstelle. Insofern gehen die §§ 283 ff. StGB konform mit jedem anderen Vermögensdelikt, bei dem ebenfalls mit der Vermögensschädigung stets eine Beeinträchtigung der jeweiligen Dispositionsfreiheit bezüglich des Vermögens einhergeht.[24]
Diese Auseinandersetzung hat praktische Relevanz sowohl für die Frage nach der Rechtfertigung eines bestimmten Verhaltens als auch dafür, ob das entsprechende Verhalten den Anforderungen einer als ordnungsgemäß einzustufenden Wirtschaft genügt. So lässt sich im Ergebnis die Gestaltungsmacht nicht von den Vermögensinteressen der Gläubiger ablösen.[25] Das Hochstilisieren der Gestaltungsfreiheit zum eigenen Rechtsgut hieße allerdings, Mittel und Zweck miteinander zu verwechseln.[26] Im Ergebnis hat die Reform der Insolvenzordnung aus dem Jahre 1999 damit zu keiner wesentlichen Änderung der strafrechtlich geschützten Rechtsgüter geführt.
40
Auch wenn die InsO keinen Bestandsschutz für Arbeitsplätze während des Insolvenzverfahrens gewährt[27] und Arbeitnehmerinteressen im strafrechtlichen Sinne nicht vorzugsweise geschützt sind[28], werden auch Arbeitnehmer des Täters auf Grund des Einsatzes ihrer zu entlohnenden Arbeitskraft, wenn auch nicht vorrangig[29], so doch gleichrangig mit anderen Gläubigern in den Gläubigerschutz der §§ 283 ff. StGB einbezogen.[30] Teilweise zählt man zu den geschützten Arbeitnehmerinteressen auch den Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung[31], vertraglich oder tariflich vereinbarte Abfindungen, Rechte aus der betrieblichen Altersversorgung, Entschädigungen für Wettbewerbsabreden und im Anstellungs- oder Tarifvertrag vereinbarte Abfindungen, Schadensersatzansprüche sowie Ansprüche aus den Vorschriften über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich gem. §§ 112–113 BetrVG sowie Ansprüche aus § 113 S. 3 InsO.[32]
Andere Autoren[33] betonen, von einem Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse könne angesichts der in den §§ 113 Abs. 1, 125, 128 Abs. 2 InsO getroffenen Regelungen keine Rede sein. Es bestehe keine Veranlassung, den Erhalt des Arbeitsverhältnisses zu einem eigenständigen, von den Befriedigungsinteressen anderer Gläubiger divergierenden strafrechtlich geschützten Rechtsgut zu erheben. Bezüglich der Auslegung des unternehmensinsolvenzrechtlich bedeutsamen Begriffs des ordnungsgemäßen Wirtschaftens[34] spielen spezifische Arbeitnehmerinteressen keine Rolle.[35]
41
Teilweise wird vertreten, entgegen der vom BGH[36] im Kontext von § 266a StGB vertretenen Ansicht komme Ansprüchen von Sozialversicherungsträgern auf die Arbeitnehmerbeiträge der Sozialversicherungen weder vor noch während der Krise des schuldenden Arbeitgebers Vorrang zu.[37] Der Arbeitsplatz selbst solle nicht unmittelbar geschützt werden, da das Arbeitsverhältnis nicht durch die Insolvenz beendet wird und keinen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstellt.[38] Zwar gehen Insolvenzen in der Praxis häufig mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen einher, jedoch handelt es sich dabei lediglich um einen Schutzreflex, nicht um ein Individualrechtsgut der §§ 283 ff. StGB.[39] An dieser Einschätzung ändert auch das Inkrafttreten der InsO im Jahre 1999 nichts. Zwar wird durch die Formulierung in § 1 S. 1 InsO ausdrücklich der „Erhalt des Unternehmens“ als ein Mittel der Gläubigerbefriedigung eingestuft, wodurch zumindest mittelbar auch der Erhalt von Arbeitsplätzen angestrebt wird. Jedoch gewährt die InsO keinen Bestandsschutz für Arbeitsplätze im Insolvenzverfahren.[40]
2. Schutz überindividueller (sozialer) Rechtsgüter
42
Im Bereich der Wirtschaftskriminalität besteht die strafrechtsdogmatische Besonderheit, dass regelmäßig der Schutz überindividueller Rechtsgüter im Raum steht.[41] Auch wenn dieser Ansatz im Einzelfall gelegentlich als ein „wolkiges“ oder „luftiges“, weil „frei erfundenes“ Gebilde kritisiert wird[42], ist seine positiv-rechtliche Legitimation dem Wirtschaftsstrafrecht geradezu immanent. So erlaubt die Anknüpfung an solche „sozialen“ Rechtsgüter nicht nur eine befriedigende Erfassung der meisten Wirtschaftsstraftaten, sondern hat zu der auch international gewachsenen Erkenntnis beigetragen, in diesem Deliktsbereich vorzugsweise abstrakte Gefährdungsdelikte als angemessene Reaktionsform des Strafrechts zum Schutze dieser Rechtsgüter einzusetzen.[43] Bei den Insolvenzstraftaten handelt es sich daher um Straftatbestände, die der Gesetzgeber als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet hat.[44] Bei den §§ 283 bis 283d StGB wird eine konkrete Gefährdung oder Beeinträchtigung der Gläubigerinteressen nicht vorausgesetzt. Wenn § 283 Abs. 1 StGB ebenso wie die §§ 283b, 283c und 283d StGB bereits die Vornahme einer Bankrotthandlung unter Strafe stellt, liegt ein Grund hierfür in der Schwierigkeit begründet, eine kausale und schuldhafte Verursachung einer Insolvenz durch den Täter im Nachhinein zu beweisen. Die dogmatische Rechtfertigung der Insolvenzstraftatbestände stellt darauf ab, dass solche Handlungen typischerweise insolvenzträchtig sind. Allerdings muss als objektive Strafbarkeitsbedingung hinzukommen, dass der Täter oder das von ihm vertretene Unternehmen seine Zahlungen einstellt, über das Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen wird. Erst von diesem Zeitpunkt an besteht ein Strafbedürfnis.[45] Dabei ist kein Kausalzusammenhang zwischen der Bankrotthandlung und der Strafbarkeitsbedingung erforderlich.[46] Jedoch muss ein gewisser zeitlicher und tatsächlicher Zusammenhang gegeben sein.[47] Es reicht hierfür aus, wenn Forderungen, die zur Zeit der Bankrotthandlungen bestanden, bis zur Zahlungseinstellung noch nicht getilgt waren. Wurde die Unternehmenskrise zwischenzeitlich überwunden oder beruht der Unternehmenszusammenbruch auf anderen Gründen, so entfällt das Strafbedürfnis.[48]
43
Einige Autoren[49] lehnen hier ein überindividuelles Rechtsgut als reinen Schutzreflex ab, der sich aus der Struktur der als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgeformten Insolvenzstraftaten ergebe. Der herrschenden Ansicht wird kritisch entgegengehalten, sie verwechsle das geschützte Gut eines Tatbestandes mit dem Anlass seiner Schaffung.[50] Zudem seien Rechtsgutsformulierungen auf einem derart hohen Abstraktionsniveau zur Erfassung der empirischen Relation zwischen deliktischer Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung ungeeignet. Dadurch werde nicht klärend zur Interpretation des jeweiligen Tatbestandes beigetragen, was jedoch primäre Aufgabe einer Rechtsgutsbestimmung sei.[51] Der Rückschluss von dem durch Insolvenzen verursachten hohen volkswirtschaftlichen Schaden auf das Bedürfnis nach einem überindividuellen Rechtsgut sei schon aus dem Grund nicht valide, weil Quantität nicht in Qualität umschlagen könne. Genauso wenig könne der Schluss von der Schädlichkeit einer Ketten- und Fernwirkung von Insolvenzen für abhängige Unternehmen auf ein überindividuelles Schutzgut überzeugen, denn hier liege nur eine Addition von Einzelschäden vor, bei denen der schuldrelevante Bezug zum Täter unklar sei.[52] Die angeführte Sog- und Spiralwirkung verwechsle außerdem den schädlichen Effekt, den die Nichtbefolgung (irgend)einer Norm hervorrufe, mit dem Schaden, den diese Norm durch Befolgung vermeiden solle. Dadurch setze man die Generalprävention und den Schutzzweck der Norm unzulässiger Weise gleich.[53] Das Argument des verletzten Vertrauens in die Wirtschaft sei schließlich kein spezielles Problem der Insolvenzdelikte, sondern verallgemeinerungsfähig und trage somit nichts zum spezifischen Normverständnis der Insolvenzstraftaten bei.[54]
44
Ob