Insolvenzstrafrecht. Gerhard Dannecker
herkömmliche zweistufige Überschuldungsmodell anzuwenden, nach dem in einem ersten Schritt eine Fortführungsprognose aufgestellt werden musste, bei der auf die zukünftige Ertrags- und/oder Zahlungsfähigkeit des Unternehmens abzustellen war.[26]
Der Prognosezeitraum, um den es dabei geht, ist in der InsO nicht geregelt und auch nicht eindeutig geklärt.[27] Die überwiegende Meinung in der Literatur nimmt jedoch einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren inklusive dem laufenden Geschäftsjahr an.[28] Fällt die Fortführungsprognose positiv aus, so sind in der Überschuldensbilanz Fortführungswerte anzusetzen, anderenfalls sind Liquidationswerte in Ansatz zu bringen.[29] Letztlich entscheidet damit aber allein die rechnerische Unterdeckung über das Vorliegen der Überschuldung, d. h. auch bei positiver Fortführungsprognose konnte nach alter Rechtslage eine Überschuldung angenommen werden.[30]
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Nach Inkrafttreten der InsO im Jahr 1999 war die Überschuldung gem. § 19 Abs. 2 InsO wie folgt definiert: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.“[31] Diese Definition hat mit der Änderung des Gesetzeswortlauts des § 19 Abs. 2 InsO durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG)[32] seit dem 18.10.2008 eine Modifizierung erfahren: Demnach liegt Überschuldung nur noch dann vor, „wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich“. Diese Einschränkung des Überschuldungsbegriffs galt zunächst nur bis zum 31.12.2010; gem. Artikel 6 Abs. 3 FMStG sollte der neue Wortlaut nämlich ab dem 1.1.2011 wieder in den alten Wortlaut „zurückgeändert“ werden. Diese Befristung wurde durch das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 24.9.2009[33] zunächst bis zum 31.12.2013 verlängert.[34] War bisher bei der Feststellung einer Überschuldung die Fortführungsprognose[35] lediglich bestimmend für den Wertansatz des Vermögens in der Überschuldungsbilanz,[36] so ist nunmehr eine Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO bereits ausgeschlossen, wenn eine positive Fortführungsprognose vorliegt;[37] eine Überschuldungsbilanz erübrigt sich in diesem Fall also. Bei negativer Fortführungsprognose sind bei der Bewertung der einzelnen Bilanzposten im Überschuldungsstatus Liquidationswerte zugrunde zu legen.[38]
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Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Unternehmen, die durch die Finanzkrise von hohen Wertverlusten bei Aktien und Immobilien betroffen waren, wegen der dadurch eintretenden bilanziellen Überschuldung Insolvenz anmelden mussten, obwohl sie bei einer positiven Fortführungsprognose aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin erfolgreich am Markt operieren konnten.[39] Wie diese zunächst vorübergehende Änderung, welche die Fälle der Überschuldung deutlich reduziert haben dürfte[40] und damit naturgemäß nicht nur das Insolvenzverfahren tangierte, sondern auch die Strafbarkeit wegen eines Insolvenzdeliktes erheblich einzuschränken geeignet war, vor dem Hintergrund der im Jahr 2007 begonnenen Finanzkrise zu werten ist, soll an dieser Stelle nicht zum Gegenstand weiterer Erörterungen gemacht werden; es sei diesbezüglich auf die umfangreiche Literatur zu diesem Thema verwiesen.[41] Inzwischen hat die zunächst bis zum 31.12.2013 befristete Änderung unbefristete Geltung erlangt, so dass es sich um ein milderes Gesetz i.S.d. § 2 Abs. 3 StGB handelt.
b) Der strafrechtliche Überschuldungsbegriff
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Aus dem Vorstehenden werden die Schwierigkeiten bei der Ermittlung einer im Sinne der §§ 283 ff. StGB rechtlich relevanten Überschuldung deutlich. Auch wenn der Gesetzgeber sich in § 19 Abs. 2 InsO a.F. gegen die früher herrschende modifizierte Prüfungsmethode[42] entschieden hat, musste die nunmehr geltende Legaldefinition auf das Strafrecht übertragen werden. Dabei war allerdings in Folge der bloßen funktionalen Akzessorietät die Wahrscheinlichkeit der Fortführung „schuldnerfreundlich“ zu beurteilen, so dass die Fortführungswerte bereits dann angesetzt werden sollten, wenn die Fortführung nach dem tatsächlichen Stand der Dinge nicht ausgeschlossen erschien.[43] Hierbei wird über die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft entschieden, bei der auf die Interessen der Gläubiger und damit auf die Zahlungsfähigkeit abzustellen ist.[44] Berücksichtigt werden muss aber auch die Ertragsfähigkeit.[45] Beim Nachweis der der Prognose zugrunde liegenden Tatsachen ist entsprechend dem Grundsatz in dubio pro reo Rechnung zu tragen.[46] Die seit dem 18.10.2008 geltende Fassung des § 19 Abs. 2 InsO, nach der eine Überschuldung bei positiver Fortführungsprognose ausgeschlossen ist, beseitigt zumindest temporär dieses Problem. Was den Prognosezeitraum für die Überschuldung angeht, so ist aus strafrechtlicher Sicht auf einen überschaubaren Zeitraum – bis zum Ende des folgenden Geschäftsjahres – zu begrenzen, um den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen.[47]
Die Überschuldung kann nur anhand einer Bilanz (Überschuldungsstatus) festgestellt werden. Die Feststellung, ob das Vermögen des Schuldners die betreffenden Verbindlichkeiten deckt, erfordert eine Vermögensbilanz[48], die von der Handelsbilanz abweicht und Korrekturen erfordert. Gleichwohl kann die Handelsbilanz als Ausgangspunkt für den Überschuldungsstatus dienen. Anzusetzen sind alle vermögenswerten und verwertbaren Aktivposten und alle „echten“ Verbindlichkeiten.
Auf der Aktivseite[49] sind alle Vermögenswerte zu berücksichtigen, die im Insolvenzverfahren verwertbar sind. Daher dürfen – anders als in der Handelsbilanz – stille Reserven aufgedeckt werden.[50] Ein Firmen- oder Geschäftswert darf nur in Ansatz gebracht werden, wenn mit einer Veräußerung des Unternehmens als Ganzes zu rechnen ist. Ansprüche auf rückständige Einlagen und auf Schadensersatz gegen Gesellschafter sind zu berücksichtigen, sofern keine Zweifel an der Durchsetzbarkeit bestehen[51], nicht hingegen Ansprüche nach § 64 S. 1 und 3 GmbHG, da sie erst im Insolvenzverfahren bzw. nach Abweisung des Insolvenzverfahrens mangels Masse geltend gemacht werden können. Gegenstände, die der Gesellschaft nicht gehören oder an denen ein Aussonderungsrecht besteht, sind nicht auf der Aktivseite zu verbuchen.
Auf der Passivseite[52] sind alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft grds. zum Nennwert anzusetzen. Bei streitigen Verbindlichkeiten ist eine Wertberichtigung vorzunehmen. Kosten des Insovenzverfahrens sind nicht zu berücksichtigen. Gleiches gilt für Gesellschafterdarlehen, es sei denn, es wurde ein qualifizierter Rangrücktritt vereinbart.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Erstellung des Überschuldungsstatus konzentrieren sich in der Praxis die Strafverfolgungsorgane bei ihren Ermittlungen häufig auf solche Unternehmen, bei denen die wirtschaftlichen Probleme offensichtlich sind. Im Zweifel kommt in der Praxis eine Überschuldung – die negative Fortführungsprognose vorausgesetzt – nur dann in Frage, wenn die Passiva die Aktiva eindeutig und erheblich übersteigen.[53] Hinreichende Grundlage für eine Verurteilung ist in aller Regel die Feststellung einer gravierenden Überschuldung schon nach der Handelsbilanz. Infolge der schwierigen Beweiswürdigung fokussieren die Strafverfolgungsbehörden ihren Blick vielfach auf das Merkmal der Zahlungsunfähigkeit.[54] Dieser Insolvenzgrund zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er wesentlich leichter nachweisbar ist und bereits beim Vorliegen eines Krisenmerkmals angenommen werden kann.[55]
3. Zahlungsunfähigkeit
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Der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ist neben der Überschuldung ein weiterer Grund für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer natürlichen Person bzw. eines Unternehmens.[56] Nach § 17 Abs. 2 S. 1 InsO ist der Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Damit ist die Zahlungsunfähigkeit zunächst als stichtagsbezogenes Liquiditätsdefizit zu verstehen, das durch die Tatsache des Nichtzahlenkönnens