Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1. Reinhart Maurach
Eröffnungswehen abzustellen[12]; bei der Schnittentbindung ist die Öffnung des Uterus maßgeblich[13].
9
Bei aller gebotenen Vorverlagerung des Beginns des menschlichen Lebens bleiben die Grenzen zwischen Tötung und Schwangerschaftsabbruch zu beachten. Pränatale Abtötungen der Leibesfrucht bleiben auch bei deren Lebensfähigkeit Schwangerschaftsabbruch. Die geringere Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs und die Straflosigkeit des fahrlässigen Schwangerschaftsabbruchs[14] können auch nicht in den Fällen übersprungen werden, in denen eine Einwirkung auf die Leibesfrucht erst nach deren Geburt und damit bei einem „Menschen“ zum Todeserfolg führt; dies würde der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers für eine geringere Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs und die Straflosigkeit des fahrlässigen Schwangerschaftsabbruchs widersprechen[15]. Auch das Ausweichen in eine Körperverletzung an der Mutter[16] ist unzulässig, sofern nicht eine toxische Einwirkung vorliegt (Hirsch JR 85, 339). Keine Straftat gegen das Leben und keine Körperverletzung gegenüber der Mutter (und damit bei Fahrlässigkeit straflos) ist auch die Verhinderung der Geburt, z.B. durch Verabfolgung wehenhemmender Mittel (BGH 31, 348) oder Unterlassung des Kaiserschnitts[17].
De lege ferenda wäre angesichts der modernen Entwicklung der Frühgeborenenrettung gewiss eine Abgrenzung nach der Lebensfähigkeit sinnvoller als die nach der Geburt[18]. Damit würde auch die Versuchung zum Spätschwangerschaftsabbruch (s.u. § 6 Rn. 38) beseitigt[19].
10
Lebensfähigkeit des Neugeborenen ist nicht Voraussetzung des Lebensschutzes (RG 2, 404); es genügt, dass das Kind unabhängig vom Organismus der Mutter z.Z. der Tat noch lebt. „Mensch“ i.S. des Strafrechts ist daher auch die in Abtreibungsabsicht zur Welt gebrachte lebensunfähige, aber noch lebende Leibesfrucht (BGH 10, 5, 292; BGH ZfL 03, 83 m. Anm. Wiebe). Dies gilt auch für Missgeburten (Monstren), wenn diese wenigstens „Menschenantlitz tragen“, menschenähnlich sind[20]. Molen (krankhaft entartete Eier) scheiden in jedem Falle als Handlungsobjekt aus. Wegen der Funktion des Hirnstamms ist beim sog. Anenzephalus eine Gleichsetzung mit dem Hirntod (u. Rn. 12) unzulässig[21]. Ein Sterbenlassen wird jedoch hingenommen[22].
Anmerkungen
RG DR 39, 365. A.A. Herzberg/Herzberg JZ 01, 1106; Merkel NK § 218 29 ff.
Nach Küper GA 01, 515 jetzt aus § 218, nach Hirsch FS Eser, 2005, S. 309 ff., 318 aus einer „tradierten Bedeutung des Wortes ,Mensch‘ bei den allgemeinen Tötungsstrafbeständen“ (ebenso die von Hirsch betreute Kölner Diss. T. Drescher, Beginn des Menschseins i.S. der §§ 211 ff. StGB nach Fortfall des § 217 StGB a.F., 2004).
Blei § 5 II 1; Welzel § 38 I 1.
La/Kühl Vor § 211 3; Lüttger JR 71, 135; Fi Vor § 211 5; BGH 32, 194. A.A. Saerbeck 95 ff.: Presswehen; Cremer MedR 89, 301: Blasensprung.
BGH ZfL 03, 83 m. Anm. Wiebe; weitergehend Lüttger FS Heinitz 366.
S.u. § 5 Rn. 28. A.A. Hofmann ÖJZ 63, 284 aufgrund seiner o. Rn. 2 erwähnten Auffassung; dagegen Kunst ÖJZ 63, 599; öst. OGH ÖJZ 65, 215.
Kunst ÖJZ 63, 599; Blei MMW 70, 742; Lüttger JR 71, 136 ff.; Armin Kaufmann JZ 71, 569; Lilie LK Vor § 223 7; Saerbeck 96 ff.; BGH 10, 5, 293; BGH 31, 348 m. Anm. Arzt FamRZ 83, 1019, Lüttger NStZ 83, 481 und Hirsch JR 85, 336; BVerfG NJW 88, 2945; hinsichtlich fahrlässiger Handlungen auch Sternberg-Lieben S/S § 223 1 f.; Tepperwien 114 ff.; BGH NStZ 08, 393 m. Anm. Schroeder JR 08, 252. A.A. Hofmann ÖJZ 63, 288; LG Aachen JZ 71, 507 – Contergan-Verfahren – unter Berufung auf das Gutachten von Maurach; Arzt/Weber § 5 98.
Arzt FamRZ 83, 1020; für das Zivilrecht gegensätzlich OLGe Düsseldorf und Koblenz NJW 88, 777, 2959.
Hanack Zschr. Gynäkologe 82, 96; OLG Karlsruhe NStZ 85, 314 m. Anm. Jung.
Zust. zu diesem hier schon in der 6. Aufl. 1977 vorgetragenen Vorschlag Hirsch JR 85, 340 und Gropp GA 00, 7 ff. m. rechtsvergl. Hinweisen.
Jakobs Geschrieb. Recht u. wirkl. Recht b. Schwangerschaftsabbruch, Medizineth. Materialien des Zentr. f. Med. Ethik, H. 90, 1994, 10; Gropp GA 00, 1.
Frank I vor § 211; Gerland 470; weitergehend h.L.; eingehend Engisch aaO 23.
Isemer/Lilie MedR 88, 67; Wolfslast MedR 89, 163; Bottke aaO 59 ff. Hierzu Resolution der Transplantationszentren zur „Organentnahme bei Anenzephalen“ (Weißbuch 151).
Merkel Früheuthanasie, 2001, 623; Scheinfeld FS Roxin II 186f.
2. Das Ende des menschlichen Lebens
11
Der Schutz des menschlichen Lebens dauert bis zu dessen Ende. Bis dahin sind daher auch der Todgeweihte (OGH 2, 140) und der Sterbende (BGH 7, 288; BayObLG NJW 73, 565), auch nach Einsetzen der Agonie (BGH VRS 17, 187), taugliches Tötungsobjekt. Hierauf beruht das grundsätzliche Verbot der „unechten“ Euthanasie (s.u. VI).
12
Der früher nach dem Stillstand von Atmung und Kreislauf ohne größere Probleme beurteilte Zeitpunkt des Todes ist durch die moderne Entwicklung von Reanimatoren und Respiratoren sowie der auf möglichst frische Transplantate angewiesenen Organtransplantation äußerst problematisch geworden. Allgemein wird heute im Anschluss an den Report der Harvard Medical School[23] auf die Zerstörung des Gehirns, den Hirntod abgestellt (s.a. § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG). Dessen Feststellung war zunächst schwierig. Das Elektroenzephalogramm gilt erst nach einiger Wartezeit als zuverlässig. Ein angiografischer Nachweis (Röntgenaufnahme nach Injektion eines Kontrastmittels