Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
eine zeitige Freiheitsstrafe zwischen 10 und 15 Jahren verhängt (§ 46b Abs. 1 S. 1 StGB).
Teil 1 Einführung › B › II. Ausbau von Opferrechten
II. Ausbau von Opferrechten
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Mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.07.2009[20], das am 01.10.2009 in Kraft getreten ist und an das Opferrechtsreformgesetz von 2004 anknüpft, sind die im Strafverfahren bestehenden Rechte von Geschädigten und Zeugen erneut erweitert worden. Die ursprünglich – ganz nebenbei – in den Gesetzentwurf aufgenommene Verpflichtung, einer polizeilichen Vorladung Folge zu leisten (§ 163 Abs. 4–E–), hat zum Glück keine parlamentarische Mehrheit gefunden. Eine Erscheinungs- und Aussagepflicht besteht also weiterhin nur bei richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Vorladungen.
Teil 1 Einführung › B › III. Neuere Rechtsprechungstendenzen
1. Vollstreckungslösung bei konventionswidriger Verfahrensverzögerung
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Mit der Grundsatzentscheidung des Großen Senats, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen im Wege einer Vollstreckungslösung zu kompensieren[21], ist nun bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ein Härteausgleich für erledigte, an sich gesamtstrafenfähige Vorstrafen im Wege der Anrechnung per Vollstreckungsfiktion zu gewähren[22].
2. Keine Strafrahmenverschiebung bei selbstverschuldeter Trunkenheit
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Der sich vor 10 Jahren ankündigende Rechtsprechungstrend, noch weniger Nachsicht mit Mord- und Totschlagsverdächtigen zu üben, hat sich verfestigt. Es hatte sich schon klar abgezeichnet: Von Ausnahmefällen abgesehen[23] kommt nach der neueren Rechtsprechung des BGH bei selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafrahmenverschiebung in der Regel nicht mehr in Betracht[24].
3. Keine unbedingte Unverwertbarkeit bei fehlender qualifizierter Belehrung
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Der unbelehrt einvernommene Beschuldigte ist nunmehr zu Beginn der Folgevernehmung zusammen mit der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO darauf hinzuweisen, dass wegen der bis dahin unterbliebenen Belehrung die zuvor gemachten Angaben unverwertbar seien (sog. qualifizierte Belehrung)[25]. Da der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung aber nach Auffassung des BGH nicht dasselbe Gewicht hat wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aussagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln[26].
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Es bedarf keiner Hervorhebung, dass sich mit dieser Rechtsprechung ein dramatischer Rückschritt vollzieht. Mit seiner über alle Strafsenate hinweg abgestimmten Grundsatzentscheidung vom 27.02.1992[27], ein Verwertungsverbot für Belehrungsfehler unabhängig von der Schwere des Vorwurfs und losgelöst davon anzuerkennen, ob es sich um eine bewusste Belehrungsfinte oder ein bloßes Versehen des Beamten gehandelt hat, hatte der 5. Strafsenat in verdienstvoller Weise erstmals eine konsistente Lösung gefunden, die Rechtssicherheit bot und den Rechtsanwender von schwierigen, oftmals willkürlich anmutenden Abwägungen zum „Unrechtsbewusstsein“ des jeweiligen Beamten befreite. Es ist in keiner Weise einleuchtend, dass ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur „qualifizierten“ Belehrung anders zu behandeln ist als sonstige ganz „normale“ Belehrungsmangelfälle[28].
4. Keine Entlastungsmöglichkeit durch freiwilligen Polygraphentest
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Nach wie vor ist nach Auffassung des BGH[29] der freiwillige, vom Tatverdächtigen zu seiner Entlastung beantragte Polygraphentest als Beweismittel weder geeignet noch zulässig. Die vom BGH im Jahre 1998[30] dargelegten grundsätzlichen Einwände bestünden uneingeschränkt fort[31]. Der Revisionsführer hatte in der Hauptverhandlung vergeblich die der Einholung eines Sachverständigengutachtens vorgeschaltete Untersuchung[32] des Angeklagten unter Einsatz eines Polygraphen beantragt.
5. Keine Strafbarkeit erbetener Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch
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Der 2. Strafsenat des BGH hat in einem viel beachteten Grundsatzurteil zur Sterbehilfe am 25.06.2010 entschieden, dass die Behandlung eines unheilbar erkrankten Patienten straflos abgebrochen werden darf, wenn dies dessen zuvor geäußertem Willen entspricht. Bei bewusstlosen Patienten sei allein deren mutmaßlicher Wille maßgeblich. Freigesprochen wurde ein Anwalt, der seiner Mandantin zugeraten hatte, den Ernährungsschlauch ihrer seit Jahren im Wachkoma liegenden Mutter zu durchtrennen[33].
Teil 1 Einführung › B › IV. Reformbestrebungen
1. Überlegungen zur weiteren Verschärfung von Jugendstrafen
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Auf der Agenda steht auch die weitere Verschärfung des Jugendstrafrechts[34]. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 vereinbart, im Jugendstrafrecht die Höchststrafe für Mord auf 15 Jahre anzuheben[35]. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung (BT-Drs. 16/13142) auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 16/8146) hervorgeht, ist nicht beabsichtigt, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen.
2. Härtere Strafen für Hassdelikte
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Der Bundesrat hat am 02.03.2012 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme menschenverachtender Tatmotive als besondere Umstände der Strafzumessung verabschiedet, das durch Änderung des § 46 StGB eine härtere Bestrafung von Täter erreichen will, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Motiven gehandelt haben[36].
3. DNA-Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener?
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Aus aktuellem Anlass war über eine Erweiterung der Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen nachgedacht worden. Im Dezember 1993 kam es in Düsseldorf zu einem Überfall auf eine Videothek. Der Täter fesselte die Angestellte, stülpte ihr eine Plastiktüte über den Kopf und verschloss diese mit Klebeband so fest am Hals, dass die 28-Jährige qualvoll erstickte. Ihr Mörder flüchtete mit 650 DM aus der Tageskasse. Der mutmaßliche „Videothekenmörder“ Werner P. wurde kurz darauf gefasst, aber 1994 vom Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen. 2006 wurde bei einem Routineabgleich an einem Klebeband, das als Mordwerkzeug gedient hatte und 1993 am Tatort – in der Videothek – gefunden worden war, genetisches Material des 1994 freigesprochenen Mannes gefunden. Dieser hatte 80.000 DM Entschädigung für die „zu Unrecht“ erlittene Untersuchungshaft erhalten.
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Mord