Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Assistenten“ aus April 2019 (www.bundesgesundheitsministerium.de).
Ulsenheimer Das Krankenhaus 1997, 22 ff.; ebenso Heinze/Jung MedR 1985, 65 ff.; Opderbecke Arzt und Krankenhaus 1992, 205 f.; s. auch OLG Düsseldorf AHRS 930, S. 16.
Boll Strafrechtliche Probleme bei Kompetenzüberschreitungen nichtärztlicher medizinischer Hilfspersonen in Notsituationen, 2000.
Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung › Teil 1 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) › V. Aufklärungsmängel und ihre strafrechtliche Bedeutung
V. Aufklärungsmängel und ihre strafrechtliche Bedeutung
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Auch in der strafrechtlichen Praxis ist der Vorwurf, es sei ein Aufklärungsfehler unterlaufen, sehr verbreitet, aber nur unter Einschränkungen eine valide Basis für strafrechtliche Vorwürfe (dazu 1.). Die strafrechtliche Bedeutung der Aufklärungspflichten folgt insbesondere aus der Tatbestandsmäßigkeit auch des Heileingriffs nach den §§ 223 und 229 StGB – sie macht regelmäßig eine Rechtfertigung der ärztlichen Heilbehandlung durch eine nicht aufklärungsbedingt fehlerhafte Einwilligung erforderlich (näher 2. und V.). All dies beruht auf einer auch verfassungsrechtlich begründeten Aufwertung der Patientenautonomie (siehe 3.).
a) Strafverfahren wegen Aufklärungsfehlern
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Neben den Behandlungsfehlern haben Aufklärungsmängel nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Strafrecht eine durchaus gewichtige Bedeutung.[1] Die gegenteiligen Feststellungen von Schewe, Ulrich und Kern/Laufs[2] aus den 80er-Jahren beruhen vielleicht auf der Tatsache, dass es nur wenige – dafür allerdings spektakuläre – obergerichtliche Strafurteile[3] gibt, die sich mit der Aufklärungsproblematik befassen. Ältere empirische Untersuchungen von Peters[4] und Lilie/Orben[5] machen zwar geltend, dass „die eigenmächtige Heilbehandlung im Gegensatz zum Zivilrecht in Strafverfahren, insbesondere im Ermittlungsverfahren, tatsächlich noch nicht mal eine untergeordnete Rolle“[6] spiele. Die älteren Auswertungen beruhen aber auf einer eher überschaubaren Datenbasis und widersprechen den hier beispielhaft widergegebenen (Rn. 321 ff.) Erfahrungen Ulsenheimers, der diese in über 30 Jahren in mehr als 2.500 Fällen erwerben konnte.[7] Jüngere Konstellationen, in denen gerade aus Aufklärungsfehlern letztlich Verurteilungen nach den §§ 223, 227 StGB abgeleitet werden, unterstreichen eine jedenfalls erhebliche Bedeutung (siehe Rn. 321 ff.).
b) Auffangfunktion des Aufklärungsfehlers
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Gerade wenn man die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren mit in die Betrachtung einbezieht und die amtsrichterliche Spruchpraxis in Gestalt rechtskräftiger Strafbefehle durchforstet, tritt der Aufklärungsfehler weitaus häufiger in Erscheinung, und zwar meist als Annex oder nachgeschobener zusätzlicher Vorwurf. Insofern kann man auch in Strafverfahren immer wieder die Feststellung machen, die derjenigen in Arzthaftungsprozessen vor den Zivilgerichten gleicht: Das Schwergewicht der Anzeige oder der von Amts wegen aufgenommenen Ermittlungen liegt zunächst auf einem ärztlichen Behandlungsfehler, dessen Nachweis jedoch im konkreten Fall schwierig ist oder – meist nach Einholung eines Gutachtens – scheitert. In einer Vielzahl von Fällen weichen Anzeigeerstatter und Staatsanwalt dann auf den Vorwurf unzureichender oder fehlender Aufklärung aus,[8] der somit auch hier eine Auffangfunktion übernimmt.[9] Insofern vermag ich weder Ulrich zuzustimmen, wenn er unter Hinweis auf den im Strafprozess geltenden Grundsatz in dubio pro reo meint, „die Chance einer Strafanzeige“ erhöhe sich „nicht deshalb, wenn allein oder zusätzlich“ ein Aufklärungsmangel gerügt wird,[10] noch überzeugt die These von Lilie/Orben[11], die Bedeutung des Aufklärungsfehlers sei im Strafverfahren durch die Beweiskraft der Aufklärungsformulare „limitiert“. Richtig ist zwar, dass die Beweislast für die Risikoaufklärung im Strafverfahren nicht – wie im Zivilprozess – beim beschuldigten/angeklagten Arzt liegt, die „marktgängigen“ Merkblätter zur Dokumentation der Aufklärung bei richtigem Gebrauch beweiskräftig sind und es im Strafprozess auch keinen Anscheinsbeweis gibt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Verstoß gegen die ärztliche Aufklärungspflicht angesichts der bestehenden Unklarheit über ihren Umfang, der – verfehlten – Übernahme der zum Teil überstrengen Grundsätze der zivilrechtlichen Judikatur durch die Strafgerichte (gegen diese Rn. 337 ff.),[12] der vielfach ungenügenden Aufklärungsdokumentation und – deshalb vor allem – infolge der Stellung des Verletzten als „Kronzeuge“ der Staatsanwaltschaft viel leichter beweisbar ist.[13]
c) Einige Beispiele
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1. | Die Patientin erhob Strafanzeige, gestützt auf die Behauptung, der Arzt habe sowohl beim operativen Eingriff selbst – einer Hautabschleifung mit Peeling – als auch im Rahmen der postoperativen Nachsorge Behandlungsfehler begangen. Nachdem mehrere Gutachter dies verneint hatten, schob die Patientin den Vorwurf nach, der Angeklagte habe sie nicht auf die Möglichkeit einer erhabenen Narbenbildung mit entstellendem Charakter hingewiesen. Der angeklagte Arzt bestritt dies nachdrücklich und betonte, er habe der Patientin den technischen Vorgang der sog. Chemabrasio erläutert, auf die speziellen Gefahren und Komplikationsmöglichkeiten durch den Vergleich „mit einer großflächigen Schürfwunde“ hingewiesen und außerdem auch davon gesprochen, „dass bei einer Schürfwunde flächenhafte, polsterartige Narben zurückbleiben könnten“. Zumal der Beschuldigte jedoch im Strafprozess – anders als die Zeugin – nicht der Wahrheitspflicht unterliegt, folgte das Landgericht – wie zuvor schon das Amtsgericht – ihrer Aussage und verurteilte den Chirurgen wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen[14]. |
2. | Im Anschluss an eine Leistenbruchoperation kam es zu einer Hodenatrophie, weshalb der Patient dem Arzt einen „Kunstfehler“ vorwarf. Da sich jedoch nicht einwandfrei klären ließ, ob die so genannte Bassini-Naht zu eng gelegt war, prüfte die Staatsanwaltschaft die Aufklärungsfrage und stellte fest, der Patient sei über die Möglichkeit des Eintritts dieser typischen Komplikation nicht unterrichtet worden, was der beschuldigte Arzt energisch bestritt. Da der Stationsarzt die Aufklärung vorgenommen hatte, stand ein „unverdächtiger“ Zeuge für den Gegenbeweis zur Verfügung, doch hinderte dies die Staatsanwaltschaft nicht, gegen das freisprechende Urteil des Landgerichts – erfolglos – Revision einzulegen.[15] |
3. |
Die Anzeigeerstatterin erhob gegen „ihre“ Frauenärztin den Vorwurf, die Empfehlung und Einlage eines IUP (Intrauterinpessars) sei kontraindiziert gewesen und habe einer Eileiterentzündung Vorschub geleistet. Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Sachverständige hielt das Vorgehen der Ärztin zwar |