Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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die Umwelt ausschöpft.

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       Dies bedeutet einen Schritt hin zu einer integrativen Betrachtung der Täter:innenpersönlichkeit (→ § 10 Rn 24 ff.), die mit einem Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet. Dem Anliegen der spätmodernen Kontrollgesellschaft entsprechend (→ §§ 19 Rn 67 ff.; § 20 Rn 53 ff.; § 21 Rn 24 ff.; § 22; § 24) richtet sich das Interesse weniger auf Einzelne und ihre Disziplinierung als auf die (möglichst frühe) Prävention.16

      I. Zwillings- und Adoptionsforschung

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       [90] Wegbereitend für biokriminologische Studien, die auch mit Umwelteinflüssen rechnen, ist die Zwillingsforschung. Sie stellt den Versuch dar, mit Hilfe eines naturgegebenen Experiments den verhaltensbestimmenden Einfluss der (Erb-) Anlage vom Einfluss der Umwelt zu isolieren und die jeweilige Stärke dieser Einflüsse zu prüfen. Die Zwillingsforschung macht sich den Umstand zunutze, dass eineiige Zwillinge das gleiche Erbgut aufweisen, zweieiige Zwillinge dagegen – wie Geschwister im Übrigen – erbverschieden sind. Durch Verhaltensvergleiche von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen und sonstigen Geschwistern soll der Anlageneinfluss bei relativ konstant gehaltenen Umweltbedingungen erhoben werden. Eine gehäufte Verhaltensübereinstimmung bei erbgleichen Personen wird als Beleg für die Bedeutung der Anlagen gewertet.17

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       Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich dahin zusammenfassen, dass zwar ein gewisser empirischer Zusammenhang zwischen vererbten Eigenschaften und Kriminalität zu bestehen scheint, dieser Zusammenhang freilich eher schwach ausgeprägt ist und desto schwächer ausfällt, je aktueller die Studien und je größer die untersuchten Fallzahlen sind sowie je anspruchsvoller das methodische Design der Untersuchung ist.18

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       Der Beweis, dass kriminelles Verhalten durch die Anlage disponiert wird, lässt sich mit Zwillingsstudien nicht führen. Eineiige Zwillinge verhalten sich womöglich häufiger übereinstimmend, weil sie mehr aneinanderhängen, mehr Zeit miteinander verbringen, öfter Freund:innen und Hobbys teilen als andere Geschwister. Sie werden vielleicht eher gemeinsam straffällig, weil sie häufiger sonstige gemeinsame Lebensgewohnheiten aufweisen. Vielleicht werden sie auch nur häufiger gemeinsam erwischt, weil sie als „doppelte Lottchen“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder bei Ermittlungen, die sich gegen einen eineiigen Zwilling richten, der Verdacht einer Beteiligung des Zwillings näherliegt als bei sonstigen Geschwistern. Dafür spricht eine weitere Studie, die Straftaten nicht nach amtlichen Registern, sondern nach anonymem Selbstberichten erhob, aus denen sich keine erhöhte kriminelle Verhaltensübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen ergab.19

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       [91] Bei der Adoptionsforschung werden Anlage- und Umwelteinfluss durch Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Adoptivkindern mit derjenigen ihrer leiblichen Eltern einerseits und ihrer Adoptiveltern andererseits erhoben.20 Die Verhaltenskonkordanz bei biologischer Verwandtschaft wird als Indiz für genetische Disposition zur Kriminalität, die Konkordanz in der Adoptivbeziehung als Hinweis auf sozialen Einfluss gewertet.21

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       Auch Adoptionsstudien fallen nicht eindeutig zugunsten vererbter Einflüsse aus. So erbrachte eine breitere und verfeinerte Replikationsstudie deutlich schwächere Indizien für biologische Einflüsse als die ursprüngliche Studie.22 In einer Metaanalyse wurde für den Einfluss von Erbfaktoren lediglich eine mittlere Effektstärke von 0.11 nachgewiesen.23 Demnach gilt auch bei Adoptionsstudien: Je aktueller, je statistisch aussagekräftiger und je methodisch ausgefeilter die Untersuchung, desto stärker nivellieren sich angenommene vererbte Effekte.

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       Wo die Ergebnisse der Adoptionsforschung genetische Effekte zu belegen scheinen, sind die Befunde auch anders verstehbar. Eltern, die ihre Kinder zur Adoption weggeben, sind häufig psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt, die mit Kriminalität einhergehen. Bei den Kindern kann das Adoptionsverhältnis eine erhöhte kriminelle Gefährdung bewirken. Die oft als Trauma erlebte Adoption erschwert die soziale Eingliederung. Adoptionen geht nicht selten ein für die kindliche Entwicklung schädlicher Heimaufenthalt voraus.

      II. Genetische Annahmen

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       In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie überführter Täter eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.

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       [92] Nachfolgende Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.24 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.25 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.26 Amerikanische Studien deuten im Gegenteil trotz gewisser psychischer Auffälligkeiten auf eine verminderte Aggressionsneigung von XYY-Männern hin.27 Eine auslesefreie Untersuchung sämtlicher (31.436) in Kopenhagen in den Jahren 1944 bis 1947 geborener Männer untermauert dies.28 Auch die Überzähligkeit von X-Chromosomen bei Männern (sog. Klinefelter-Syndrom) dürfte entgegen früherer Mutmaßungen in keinem Zusammenhang zur Kriminalität stehen. Die Feststellung erhöhter Häufigkeit dieses Syndroms unter Straffälligen erreicht keine signifikanten Werte; zudem bleibt die Kriminalität von Klinefelter-Männern typischerweise im Lebenslängsschnitt episodenhaft.29

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       In der neuseeländischen Stadt Dunedin wurden alle 1972 und 1973 in demselben Krankenhaus geborenen Personen (N = 1.037) während 30 Jahren von einem Team Forschender um das Ehepaar Terrie Moffitt und Avshalom Caspi im Hinblick auf während der Kindheit erlittene Misshandlungen und späterem gewalttätigem Verhalten beobachtet (→ § 10 Rn 38 f..). Dabei ergab sich, dass zwar Opfer von Misshandlungen im Kindesalter später zu etwa 50 % eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als nicht misshandelte Kinder, diese Beziehung jedoch für die meisten misshandelten Kinder nicht zutrifft. Die Forschenden vermuten einen Einfluss eines nur bei Männern vorhandenen Gens, das für die Bildung des Enzyms Monoaminoxidase A (MAOA) verantwortlich ist. Dieses Gen sorgt dafür, dass Aggressivität fördernde Neurotransmitter im Gehirn wie Norepinephrin (NE), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) deaktiviert werden. Als Knaben misshandelte Männer, bei denen diese hemmende Funktion unzureichend ist (low-activity-Allel), benahmen sich später zu mehr als 80 % antisozial und zu mehr als 30 % gewalttätig. Angenommen wird, dass die genetischen Dispositionen erst durch Misshandlung in der Kindheit „angeschaltet“ würden.30 In den Forschungsberichten werden allerdings die Art der erlittenen Misshandlungen und der verübten Gewalt nicht spezifiziert. Ebenso bleiben Einflüsse des Lebensabschnittes zwischen kindlicher Misshandlung und späterer Gewaltausübung [93] ausgeblendet. So wird aufgrund der festgestellten statistischen Beziehung der Eindruck eines fast zwingenden Zusammenhanges von erlittener und verübter Gewalt bei entsprechender genetischer Ausstattung erzeugt. Die intergenerationale Weitergabe erlebter Gewalt kann indes auch soziologisch über die Theorie des sozialen Lernens, Bindungstheorien und den Aspekt der niedrigen Selbstkontrolle der allgemeinen Kriminalitätstheorie erklärt werden.31

      III. Hirnforschung

      Lektüreempfehlung: Hallmann, Amina (2017): Wie ernst muss die Kriminologie die Neurowissenschaften nehmen? – Zum möglichen Aufkommen einer neuen Biokriminologie. NK 29, 3-14; Heinemann, Torsten (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikoanalysen. KrimJ 46, 184-199; Kunz, Karl-Ludwig (2010a): Lebenswissenschaft und Biorenaissance in der Kriminologie. In: Böllinger, Lorenz. u. a. (Hrsg.): Gefährliche Menschenbilder. Baden-Baden, 124-137; Strasser, Peter (2013): Brains and Would-be Brains. KrimJ 45, 58-68.

      Nützliche Webseiten: http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/852357&_z=798884.


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