Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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standardisiert erhoben und statistisch geprüft werden. Diese Verfahren ermöglichen induktiv erstellte Persönlichkeitsinventare, welche die Verteilung der verschiedenen Dimensionen der Persönlichkeit der untersuchten Probanden in Skalen abbilden. Die Inventare werden sodann in Frageform Versuchspersonen vorgelegt, deren Antwortverhalten eine quantitativ-skalenmäßige Zuordnung der Person zu einem bestimmten Persönlichkeitsprofil oder mehreren solcher Profile erlaubt. Von der Anwendung dieser Verfahren auf verschiedene Gruppen strafrechtlich Erfasster und Vergleichsgruppen nicht strafrechtlich auffällig gewordener Personen verspricht man sich Aufschluss über persönlichkeitsbezogene Eigenarten Straffälliger.52

      4 So verglich das Ehepaar Sheldon (1896-1980) und Eleanor Glueck (1898-1972) 1950 in den USA je 500 delinquente und nicht delinquente Jugendliche (→ § 10 Rn 26 ff., 38 ff.) und kam zum Ergebnis, die „delinquente Persönlichkeit“ sei eher extrovertiert, impulsiv und unnachsichtig, weniger selbstkontrolliert, weniger um Konventionen bekümmert und um Misserfolg besorgt.53 Ähnliche Befunde ergeben sich aus dem multivariaten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) und dem Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI).54 Im MMPI erwies sich die Skala für „psychopathische Devianz“ zur Bestimmung persönlichkeitsbezogener Unterschiede straffällig Auffälliger und Unauffälliger als statistisch am ausgeprägtesten. Freilich enthielt diese Skala Fragen nach Problemen mit dem Gesetz, kindlichem Stehlen, Freude an der Schule und häuslicher Geborgenheit und spiegelte damit eher unterschiedliche Lebensumstände als eine gesteigerte „Psychopathie“ der straffällig Auffälligen.55 Zumeist wird das Ergebnis von Persönlichkeitsvergleichen straffällig Auffälliger und Unauffälliger [102] dahin zusammengefasst, dass solche Tests für ein theoretisches Verständnis der Ursachen kriminellen Verhaltens wenig Bedeutung besitzen.56

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       Ergänzend zu Persönlichkeitsinventaren wurde das Konzept der psychopathischen oder soziopathischen Persönlichkeit zur Beschreibung der Charaktereigenschaften von Straftäter:innen entwickelt, die scheinbar grundlos besonders grausame Verbrechen verübt hatten. In einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Maske der geistigen Gesundheit“57 beschrieb Cleckley (1903-1984) 1964 Psychopath:innen als moralische „Idioten“, die frei von Psychosen, doch unfähig zu Mitgefühl sind, chronisch lügen, überdurchschnittlich intelligent und egozentrisch veranlagt sind. Indikatoren für Psychopathie zeigten sich schon in frühen Lebensabschnitten in Form von Bettnässen, Schlafwandeln, Grausamkeit zu Tieren, Brandlegen und Vandalismus. In ihrer Impulsivität und ungezügelten Aggression, ihrer reinen Ichbezogenheit und Unfähigkeit zu moralischem Urteilen gerieten diese Personen früher oder später zwangsläufig mit dem Strafgesetz in Konflikt.

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       Das Konzept der Psychopathie birgt empirisch dürftig abgesicherte Verallgemeinerungen. Es enthält ein erfahrungswissenschaftlich nicht vertretbares deklassierendes Werturteil über die damit bezeichnete Person.58 Seit 1968 ist es deshalb in der American Psychiatric Association üblich geworden, den Begriff der psychopathischen Persönlichkeit durch den der „antisozialen“ bzw. „dissozialen“ Persönlichkeit zu ersetzen und für deren Charakterisierung präzisere Merkmale zu verwenden (→ § 8 Rn 16 ff.).59

      7 In der Psychologie und mittlerweile auch in der Kriminologie (→ § 9 Rn 27 ff.) wird Kriminalität mitunter als eine Anpassung an psychische Stresssituationen verstanden.60 Kriminelles Verhalten ist demzufolge von triebhaften Empfindungen – wie dem aus dem Schuldgefühl resultierenden unbewussten Verlangen nach Bestrafung – geleitet, die dem Bedürfnis nach Unauffälligkeit und Konformität entgegengerichtet sind. Daraus entstehe ein innerer Konflikt, der mitunter nicht ausgehalten und durch kriminelle Betätigung entladen werde. Kriminelles Verhalten dient danach der Bewältigung psychischer Zwänge, die andernfalls als übermächtig empfunden würden. Es verschaffe der gestressten [103] Psyche im Augenblick der Tat ein gutes Gefühl der Autonomie und Überlegenheit über andere.61 Gerade für Personen, die durch soziale Benachteiligung und Unterdrückung belastet sind, sei die kriminelle Betätigung eine Form der Selbstbestätigung und mitunter gar eine Überlebenshilfe.

      „During the planning and execution of a criminal act, the offender is a free man. The value of this brief taste of freedom cannot be overestimated. Many of the criminal’s apparently unreasonable actions are efforts to find a moment of autonomy.“62

      8 Diese Deutung gewinnt eine neue Dimension, wenn die zu Kriminalität disponierende psychische Beschaffenheit nicht in der negativen Belastung durch Stress, sondern in den positiven Erlebnisinhalten gesehen wird, welche die Verübung von Straftaten vermittelt. Die Möglichkeit, einmal in die Rolle des Bösen zu schlüpfen und sie genussvoll auszuleben; der adrenalinsprühende Nervenkitzel beim unbemerkten Griff in die fremde Ladenkasse; das Auskosten der Überlegenheit beim angsterfüllten Angesicht des Opfers; kurzum: die Lust an der Amoralität ist Balsam für die Seele.

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       Solche Vorstellungen fallen aus dem Rahmen konventioneller Kriminalitätsverständnisse. Die Annahme, dass Kriminalität Genuss verschaffe und wegen dieses Genusses verübt werde, hat so gar nichts von der moralinsauren Ernsthaftigkeit, die Kriminalitätstheorien ansonsten anhaftet. Insofern die Lust am Bösen letztlich der normalen Natur des Menschen entspricht, ist sie nicht eigentlich verwunderlich. Für die herkömmliche ätiologisch-quantitative Theorienbildung ist diese Perspektive schwer zugänglich, was der Grund dafür sein mag, warum die Wissenschaft dieses Thema bislang nur vereinzelt behandelt: In der sogleich zu erörternden psychoanalytischen Perspektive und in der ökonomischen Kriminalitätstheorie, die annimmt, Individuen täten aufgrund autonomer Wahlentscheidungen das, was ihnen am meisten Vergnügen bereite (→ § 12 Rn 13, 22 f.).

      II. Die psychoanalytische Perspektive

      10 [104] Die Psychoanalyse sucht die Ursachen von Delinquenz – wie allgemein von sozialem Fehlverhalten und psychischen Störungen – in der frühkindlichen Entwicklung.63 Nach Sigmund Freud (1856-1939) werden im Verlauf der Persönlichkeitsreifung dem ursprünglichen triebhaften Es das realitätsbezogene Ich und das die Moral repräsentierende Über-Ich gegenübergestellt.

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       Das normale, noch von ungebändigten Trieben geleitete Kind ist für Freud ein „polymorph-perverses“ und „universell kriminelles“ Wesen, das in den ersten Lebensjahren unter dem Einfluss der sich allmählich bildenden Ich und Über-Ich lernt, Triebbedürfnisse zu kontrollieren. Die wichtigste Triebquelle sei der Sexualtrieb, die Libido. Die Libido des Kleinkindes entwickele sich in Phasen (orale, anale, phallische). Falls die frühkindliche Befriedigung und Weiterentwicklung der Triebe behindert wird, soll es später zu irreversiblen Entwicklungsstörungen wie mangelndem Selbstwertgefühl, Beziehungsschwäche und Bindungsarmut kommen. Die moralische Instanz des Über-Ich könne durch Versagen der für Identifikationsprozesse entscheidenden Vaterfigur unzureichend ausgebildet werden. Umgekehrt könne ein strenges Über-Ich Triebansprüche des Es ins Unterbewusste verdrängen. Die Unfähigkeit des Kindes, sich rechtzeitig von Vater und Mutter zu lösen, bewirke speziell bei Personen mit ausgeprägtem Über-Ich den Oedipuskomplex und damit unbewusste Schuldgefühle. All dies könne zu bestimmten Straftaten führen. So könnten Verbrechen aus Schuldgefühl begangen werden, ausgelöst durch das unbewusste Verlangen nach Bestrafung, um dadurch das Schuldgefühl zu erleichtern.

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       Psychoanalytische Erklärungen sind freilich nicht zwingend täter:innen- oder überhaupt kriminalitätsbezogen. Sie beanspruchen auch Erklärungskraft für die Geständnisbereitschaft, die Aggressionsneigung von Polizist:innen64, Ängste und Strafverlangen der Gesellschaft65 und generell für die Funktion des Strafrechts66.

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       [105] Theodor Reik (1888-1969) legt in seiner erstmals 1925 erschienenen Abhandlung über Geständniszwang und Strafbedürfnis67 dar, dass nicht die Bestrafung, sondern das Entdecktwerden Angst erzeuge, und somit die Strafangst in Geständnisangst umgesetzt werde. Dem Bemühen, das Verbrechen zu vertuschen, sei jedoch der Zwang, das Geheimnis zu lüften und sich so von einer psychischen Belastung zu befreien, entgegengesetzt. Durch das Geständnis vollziehe sich eine verbale


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