Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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vorangegangener Sanktionierungen absieht und damit die Strafjustiz von Verantwortung entlastet. Doch sind bequeme Antworten nicht immer überzeugend.

      30 Die Verhaltenskontinuität von manchen Angeklagten ist nicht befremdlich. Wir alle sind in Routinen gefangen, haben ein Bedürfnis nach Stabilität unserer Lebensweise und Schwierigkeiten, die einmal erworbene soziale Rolle abzustreifen. Da der „Rückfall“ im sozialen Verhalten typisch ist, ist seine persönlichkeitsbezogene Erklärungsbedürftigkeit nur und gerade im Bereich devianten Sozialverhaltens schwer einzusehen. Dies gilt umso mehr, als die Rückfallkriminalität nicht ausschließlich durch eine kriminelle Verhaltenskonstanz des Individuums bedingt ist. Der Rückfall wird für die Strafjustiz erst wahrnehmbar durch das Zusammenspiel zwischen Kontinuität des beurteilten rechtswidrigen Verhaltens und Kontinuität der institutionellen Reaktion auf die Rechtsverletzung. Der Beharrlichkeit des Rechtsbrechenden folgt eine beharrliche Reaktion, die förmlich die Rückfälligkeit feststellt und diskreditiert. Mit rückfallbeeinflussenden Faktoren ist demnach nicht nur auf der individuellen Verhaltensebene der Straffälligen, sondern auch auf der Ebene des Kontrollverhaltens zu rechnen. Schon von Liszt veranlasst das Studium der Reichskriminalstatistik zu der Aussage:

      „Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen.“79

      Denn unter den Ursachen des Rückfalls

      „nehmen die Fehler unseres Strafgesetzbuchs, unserer Strafrechtspflege, unseres Strafvollzugs weitaus die erste Stelle ein“.80

      31 [113] Für eine Prognosestellung werden mittlerweile empirisch validierte Kriterienlisten als Leitfaden eingesetzt (s. auch → § 22 Rn 9 ff.).81 Dabei wird die prognostische Einzelfallbeurteilung anhand von Kriterienlisten vorgenommen, welche relevante Risikofaktoren benennen und gewichten.82 Solche Listen dienen zum einen als Arbeitsinstrument für die fachpsychiatrische Individualbeurteilung, zum anderen ermöglichen sie Lai:innen, erstellte Prognosegutachten auf ihre Plausibilität zu überprüfen.83 In der Schweiz ist bei der Prüfung einer Entlassung aus dem Massnahmenvollzug und der Gemeingefährlichkeit vor Gewährung von Vollzugslockerungen eine Kommission aus Vertreter:innen der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden sowie der Psychiatrie anzuhören (Art. 62d Abs. 2, 75a Abs. 1, 2 StGB [CH]), welche eine solche Kriterienliste verwendet und mit ihrem Vorschlag die von der Behörde zu treffende Entscheidung oft faktisch vorwegnimmt.84 Die in den Kriterienlisten aufgeführten Risikofaktoren beruhen stets auf retrospektiven Studien über die persönlichen und sozialen Zusammenhänge mit schwerer Rückfallkriminalität. Prospektiv wurden Prognosekriterien bislang noch nicht auf ihre Validität überprüft.85

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       Zu den bekanntesten Kriterienlisten zählt der in Kanada zur Prognose von Gewaltdelikten bei psychisch auffälligen oder persönlichkeitsgestörten Personen entwickelte HCR-2086. Mit diesem Prognoseinstrument werden 20 Kriterien geprüft, die sich auf die Vorgeschichte (Historical), das gegenwärtige Störungsbild (Clinical) sowie auf die künftig zu erwartenden äußeren Umstände (Risk) beziehen. In Deutschland wurde der HCR-20 von Norbert Nedopil (*1947) in eine erweiterte Liste von Risikovariablen (ILRV) integriert.87 Daneben ist der ebenfalls aus Kanada stammende SVR-20 zur Vorhersage sexueller Gewalttaten88 gebräuchlich. HCR-20 wie SVR-20 verwenden Kriterien des PCL-R (Psychopathy Checklist Revised), einem Instrument zur Ermittlung des klinischen Störungsbildes psychopathy, das sich nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt.89

      [114] Integrierte Liste von Risikovariablen nach Nedopil

      A. Ausgangsdelikt

      1. Statistische Rückfallwahrscheinlichkeit.

      2. Bedeutung situativer Faktoren für das Delikt.

      3. Einfluss einer vorübergehenden Krankheit.

      4. Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung.

      5. Erkennbarkeit motivationaler Zusammenhänge.

      B. Anamnestische Daten (Vorgeschichte)

      1. Frühere Gewaltanwendung.

      2. Alter bei erster Gewalttat.

      3. Stabilität von Partnerbeziehungen.

      4. Stabilität in Arbeitsverhältnissen.

      5. Alkohol- / Drogenmissbrauch.

      6. Psychische Störung.

      7. Frühe Anpassungsstörungen.

      8. Persönlichkeitsstörung.

      9. Frühere Verstöße gegen Bewährungsauflagen.

      C. Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung (klinische Variablen)

      1. Krankheitseinsicht und Therapiemotivation.

      2. Selbstkritischer Umgang mit bisheriger Delinquenz.

      3. Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten.

      4. Pro- / antisoziale Lebenseinstellung.

      5. Emotionale Stabilität.

      6. Entwicklung von Coping-(Bewältigungs-)Mechanismen.

      7. Widerstand gegen Folgeschäden durch Institutionalisierung.

      D. Sozialer Empfangsraum (Risikovariablen)

      1. Arbeit.

      2. Unterkunft.

      3. Soziale Beziehungen mit Kontrollfunktion.

      4. Offizielle Kontrollmöglichkeiten.

      5. Verfügbarkeit von Opfern.

      6. Zugangsmöglichkeiten zu Risiken (destabilisierende Einflüsse).

      7. Compliance (Bereitschaft zur Mitarbeit an therapeutischen Maßnahmen).

      8. Stressoren (mögliche belastende Anforderungen).

      E. PCL-R Wert

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       Die Prognosestellung mit Hilfe von Kriterienlisten ist transparenter als die herkömmliche Individualprognose und erlaubt es den Gerichten, die Sachverständigenbeurteilung zumindest auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Freilich ist auch deren prognostische Verlässlichkeit umstritten.90 Nach Nedopil ist es [115] allein bei therapiebedürftigen Testpersonen mit spezifischen Defiziten mithilfe eines hypothesengeleiteten Therapieprogrammes, dessen Interventionen kontinuierlich überprüft und korrigiert werden, „in Ansätzen“ möglich, Risikoeinschätzungen zu erarbeiten, die „einem gewissen“ wissenschaftlichen Anspruch genügen.91

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       Mitunter führt die Prognose zur Annahme einer „Therapieresistenz“92. Für dieses Verdikt, das dem im 19. Jahrhundert durch von Liszt entworfenen Konzept des unverbesserlichen – und daher dauerhaft unschädlich zu machenden – Rückfallverbrechers entspricht, gibt es keine empirische Entsprechung in Befundtatsachen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein begriffliches Konstrukt, das die Gründe für die Undurchführbarkeit einer Therapie ausschließlich in der Testperson verortet und diese mit dem apodiktischen Verdikt der Unverbesserlichkeit belegt, das sich erst recht dazu eignet, „Therapieresistenz“ zu fördern. Mitunter liegt die „Untherapierbarkeit“ schlicht daran, dass geeignete Therapiemöglichkeiten und -einrichtungen fehlen. Das Urteil der „Untherapierbarkeit“, besser bezeichnet als „Nicht-Entlassbarkeit“93, ist jedenfalls nur vorläufig für überschaubare Zeiträume gültig.94 Zudem weist die begriffliche Konstruktion von „Therapieresistenz“ einen politischen Zuschnitt auf, der den resozialisierenden Behandlungsvollzug delegitimiert (→ § 20 Rn 53 ff.) und das populistisch vereinfachte Rezept, gefährliche Straftäter:innen einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, stützt.

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       Darüber hinaus entspricht die „Therapieresistenz“ dem generellen Schema der von Persönlichkeitstheorien vorausgesagten Verhaltensstabilität. Ebendarum ist hier die Gefahr einer Fehleinschätzung, die bestätigt findet, was der Ansatz von vornherein erwarten ließ, besonders groß.


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