Kriminologie. Tobias Singelnstein
durch Merkmale der sozial nicht tolerierten Abweichung von dem Spektrum der „normalen“ Persönlichkeit gekennzeichnet sind, bedarf ihre Bestimmung der Angabe, welches Spektrum von Persönlichkeitseigenschaften als erwünscht und normal gilt. Persönlichkeitsstörungen können nur definiert und identifiziert werden, indem ein in der betreffenden Persönlichkeit nicht vorhandener, externer Normalitätsmaßstab auf sie angewandt wird. Die Normalität beruht auf einer konventionellen Festlegung, die nicht objektiv oder universell sein kann. Der Normalitätsmaßstab entspricht dem, was die maßgeblichen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft als normal empfinden. Ist anhand eines Normalitätsmaßstabes eine Störung definiert, so lassen sich anschließend die Symptome dieser Störung bei bestimmten Individuen beobachten und beschreiben. Hier – und erst hier! – ist psychiatrischer Sachverstand verlangt.
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[109] Die kriminologische Relevanz der verschiedenen Konzepte von sozial nicht tolerierten antisozialen Persönlichkeitsstörungen ergibt sich aus zwei empirisch geprüften Beobachtungen. Zum einen scheinen Individuen mit solchen Persönlichkeitsstörungen in der Population der inhaftierten Verurteilten häufiger vorzukommen als in der Normalbevölkerung.75 Zum anderen bleibt offenbar die Bereitschaft zur Begehung von Gewalt- und Sexualdelikten in der biografischen Entwicklung einer Person relativ stabil erhalten. Abgesehen von der auf den Alterungsprozess des Organismus zurückzuführenden generellen Aktivitätsabnahme im vorgerückten Lebensalter bleibt die Disposition zur Begehung solcher Delikte offenbar auch nach längerem Zeitablauf bestehen und kann namentlich weder durch Veränderung der Lebensumstände noch durch Sanktionierungserfahrungen entscheidend beeinflusst werden. Nimmt man diese Befunde beim Wort und versteht sie nicht bloß als Artefakte einer auf Persönlichkeitsauffälligkeiten von Kriminellen fokussierten Wahrnehmung, so erbringen sie eindrückliche Belege für die Persönlichkeitsabhängigkeit von Delinquenz – und diskreditieren sowohl den klassischen Standpunkt, dass kriminelles Verhalten eine Konsequenz freier Wahl des Individuums sei, wie die soziologische Sichtweise, die Kriminalität auf gesellschaftliche Einflüsse zurückführt.
2. Diagnose in der Praxis
22 Freilich ist die Grundlage für eine Diagnose der antisozialen Persönlichkeit alles andere als gefestigt. Angesichts der Methodenvielfalt werden unterschiedliche Diagnoseschlüssel nebeneinander eingesetzt. Von den konkurrierenden Methoden der Diagnosestellung werden bevorzugt jene verwandt, deren Kategorien möglichst klare Symptombeschreibungen enthalten, die statistisch geprüft sind und die sich auf eine breite, möglichst internationale Akzeptanz unter Forschenden stützen können. Die diagnostischen Kategorien beruhen auf Merkmalskombinationen, deren Vorhandensein bei einem Individuum auf eine psychische Störung schließen lässt. Dabei ist keine eindeutige Identifikation des Individuums möglich. Vielmehr besteht die Diagnose in der analogischen Wiedererkennung genereller Symptombeschreibungen bei einem Individuum, wobei die Symptome nur als Indizien für eine psychische Störung zu verstehen sind und ihre jeweilige graduelle Ausprägung ein Beurteilungsermessen belässt.
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Die Konzepte der antisozialen Persönlichkeitsstörungen sind keine beschreibenden, um differenzierende Wahrnehmung bemühte Begriffe, sondern zu Kontrollzwecken [110] dienende zuschreibende Definitionen: Wer die Merkmale erfüllt, bedarf danach der sorgsamen Überwachung und der Neutralisierung seines Gefährdungspotenzials. Das die Erkenntnis überlagernde Kontrollbedürfnis ist stets im Spiel, wenn es um die Beobachtung psychischer Auffälligkeit geht.
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Der Stabilität der Persönlichkeitsprägung entsprechend soll der Hang zu „antisozialem“ Verhalten vom Wandel der Lebensumstände unberührt im Lebensverlauf erhalten bleiben, bis infolge des Alterns des Organismus ein Abbau der Triebkräfte einsetzt. Demgemäß ist die Diagnose der antisozialen Persönlichkeitsstörung bei verurteilten Straftäter:innen gleichbedeutend mit der Annahme des Drohens weiterer schwerer Straftaten, die eine Sicherung der Allgemeinheit durch langandauernde Inhaftierung verlange. Die Verlässlichkeit dieser Diagnose ist umstritten.76
25 Weil die Folgen der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeit für den Betreffenden in außerordentlichen und langandauernden Freiheitsbeschränkungen bestehen, bedarf nicht bloß die Diagnose im Einzelfall einer sorgfältigen kritischen Überprüfung, sondern mehr noch deren konzeptionelle Grundlage einer relativierenden Beurteilung. Auch die vergleichsweise ausgefeilten und erprobten Klassifizierungen von ICD-10 und DSM-5 verwenden eine nicht stets eindeutige Begrifflichkeit der diagnostischen Merkmale. Deren graduell unterschiedliche Ausprägungsstärke und ihre Kumulierbarkeit belassen Interpretationsspielräume, die je nach Vorverständnis der diagnostizierenden Person zu divergierenden Beurteilungen führen können. Besonders bei DSM-5 entstammen die Merkmale dem kulturellen Kontext der Mittelschicht und tragen Situationen sozialer Benachteiligung nicht Rechnung.
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Vielfach beziehen sich die Merkmalsbeschreibungen auf sozial bewertete Sachverhalte, die als regelwidrig und störend gelten. Dabei besteht die Gefahr eines empirisch gehaltlosen Zirkelschlusses, indem auf die Persönlichkeitsstörung, die sozial auffälliges und schädigendes Verhalten erklären soll, aus einem Verhaltensmuster geschlossen wird, das als sozial störend bewertet wird. Bei einer „antisozialen“ Persönlichkeitsstörung, die zu repetierendem, zumeist gewalttätigem kriminellen Verhalten disponiere, ist die Gefahr tautologischer Argumentation gerade wegen der Plausibilität des Zusammenhanges von Gewalttätigkeit und gestörter Persönlichkeit besonders groß. Wilhelm Busch (1832-1908) parodierend, ist man versucht zu sagen:
[111] „Es findet keine Überraschung statt, so man es schon erwartet hat.“
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Eine zirkuläre Beweisführung bei der Anwendung des Konzepts der antisozialen Persönlichkeitsstörung liegt besonders nahe, wenn die Persönlichkeitsstörung mit der Fähigkeit zur manipulatorischen Täuschung über die Sozialgefährlichkeit in Zusammenhang gebracht wird.77
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Oft ist die Vertretbarkeit universaler und konsistenter Eigenschaften von delinquenten Persönlichkeiten fraglich. Individuelle Dispositionen bestehen gleichermaßen zur Verhaltenskonstanz wie zur Verhaltensflexibilität. Die auf allgemeine Wesenszüge der Persönlichkeit bezogene Kriminalitätserklärung dürfte den komplexen Wechselwirkungen von Person und Situation nicht ausreichend Rechnung tragen. Geht man davon aus, dass Eigenschaften von Personen durch soziale Interaktion gebildet und verfestigt werden, so sind Beschreibungen von Täter:innenpersönlichkeiten das Ergebnis der sozialen Aushandlung von Kriminalität durch rückblickend „stimmige“ Deutungen des Kriminalitätsereignisses. Effekte der Stigmatisierung und der Prisonisierung können zu Veränderungen des Ichbildes im Sinne der Übernahme einer Rolle als abweichende Person führen („sich selbst erfüllende Prophezeiung“, → § 13 Rn 14). Soweit Persönlichkeitsunterschiede zwischen sozial Unauffälligen und später Verurteilten bereits vor der offiziellen Registrierung von Kriminalität vorgefunden wurden, lassen sich diese mit vorangegangen Interaktionen erklären, in denen soziale Auffälligkeiten bestimmt werden, die ihrerseits die spätere offizielle Registrierung, den Verlauf der Strafverfolgung und die Sanktionierung beeinflussen.78
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Wer in der Strafrechtspflege tätig ist, wird unschwer bei der typischen Klientel der wiederholt rückfälligen Sexual- und Gewaltstraftäter:innen die beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale wiederfinden. Die Übereinstimmung persönlichkeitstheoretischer Befunde mit forensischer Alltagserfahrung bedeutet jedoch keine Bestätigung auf Plausibilitätsniveau. Die Berufserfahrung der Strafrichter:innen und Staatsanwält:innen bezieht sich nicht auf einen Menschenschlag, der zu Straftaten disponiert ist, sondern auf Personen, die gewöhnlich wiederholt und wegen bestimmter gravierender Delikte vor Gericht stehen und einem höheren Strafverfolgungsdruck ausgesetzt sind. Über die Vielzahl der Personen, die unerkannt Straftaten verüben, weiß die Justiz nichts. Auch ist der Blick vom Richtendenstuhl höchst selektiv. Angeklagte Wirtschaftskriminelle erscheinen [112] als „Personen ohne Eigenschaften“, bei denen die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Persönlichkeit und Delikt fernliegt. Man erinnert sich nur derer, die regelmäßig vor Gericht erscheinen, mehr noch: deren Rückkehr als Angeklagte absehbar ist. Für die Annahme, dass „es so kommen musste“,